OCR
die sozialdemokratische Jugendbewegung ihren Ehemann Joseph T. Simon, Widerstandskämpfer und US-Offizier im Krieg und nach 1945 Jurist im US-Hochkommissariat in Österreich, interviewte. Nach dem frühen Tod ihres Ehemannes 1976 beauftragte sie mich, dessen (unfertige, nur bis 1955 reichende) Autobiografie herauszugeben (Augenzeuge, Erinnerungen eines österreichischen Sozialisten, Wien 1979, 2. Aufl., 2008). Sowohl in dieser Autobiografie als auch in der vorliegenden Biografie wird der dramatische, von existentiellen Brüchen und Katastrophen geprägte Weg zweier Menschen (bzw. ihrer Familien) gezeichnet, die - politisch links orientiert — von den Nazis als „Juden“ verfolgt und vertrieben wurden und im Exil, in Großbritannien, Dänemark und den USA, und nach der Remigration in Österreich unter schwierigen Bedingungen wieder Fuß fassen mussten. Das Schwanken und der Zwiespalt beider, inzwischen US-Staatsbürger, zwischen dem Verbleib in den damals attraktiven USA und der Rückkehr in das immer noch von Kriegsfolgen und nazistischen und antisemitischen Strömungen geprägte Nachkriegsösterreich wird vom Autor sichtbar gemacht. Maria Dorothea Simon, die im Holocaust den Großteil ihrer Familie verloren hatte, stand der Rückkehr nach Österreich skeptisch gegenüber: „...ich war irgendwie entwurzelt: Bin ich Tschechin, bin ich Osterreicherin, bin ich Amerikanerin. Ich wusste nicht, wohin ich gehörte“, stellte sie in einem 2018 erschienenen Beitrag fest. Die für Österreich nützliche Tätigkeit von Joseph Simon im US-Hochkommissariat in Wien, v.a. seine Verdienste bei der Ausarbeitung des für Österreich günstigen Zweiten Kontrollabkommens zwischen den vier Alliierten 1946, waren ihm selbst keineswegs nützlich; im Gegenteil, als er nach dem Staatsvertrag 1955 eine Führungsposition in der ÖMV erhielt, wurde er wegen seiner Tätigkeit für den „Feindstaat“ USA angegriffen und von einer unheiligen Allianz von kommunistischen Betriebsräten und ehemaligen NS-Sympathisanten zu Fall gebracht. Nach dieser Weichenstellung musste sich die Familie Simon neu orientieren und betrieb eine Zeit lang das Espresso Rondo in der Opernpassage. Während Joseph sich dann zum Rechtsanwalt ausbildete und schließlich Österreich-Direktor bei einer großen Schweizer Versicherung wurde, bemühte sich seine Frau in den USA um ihre wissenschaftliche Ausbildung bzw. um eine einschlägige Tätigkeit auf dem Gebiet der Psychotherapie. Joseph Simon hatte ungeachtet des Im-Stich-gelassen-Werdens durch den mächtigen Verstaatlichten-Minister Karl Waldbrunner in der ÖMV-Auseinandersetzung starke ideologische und persönliche Bindungen an die österreichische Sozialdemokratie. Der von ihm gewünschte endgültige Verbleib in Österreich hinderte wohl seine schon an US-Universitäten als Psychotherapeutin tätige Ehefrau an einer von ihr angestrebten, durchaus möglichen akademischen Karriere. Bei dieser Abwägung waren, wie der Autor deutlich macht, Ehe und Familie (mit vier Kindern) schließlich ausschlaggebend. Obwohl Maria Dorothea Simon die Remigration als eine „Rückkehr in die Fremde“ (Zwischenwelt 2008/1-2) empfand, konnte sie in Österreich durchaus reüssieren: Nach ihrer Rückkehr nach Wien 1947 arbeitete sie mehrere Jahre als Referentin für das US-Hochkommissariat, schloss ein Psychologiestudium 1952 mit dem Doktorat ab, absolvierte eine psychoanalytische Ausbildung, veröffentlichte eine Kolumne („Rat und Hilfe für unsere Leser“) in der SPÖZeitschrift „Das kleine Blatt“, war von 1963 bis 1968 als Assistentin am Institut für Höhere Studien tätig, che sie mit leitenden Funktionen in der Heimerziehung bzw. Ausbildung von SozialarbeiterInnen bei der Stadt Wien betraut wurde. „Maria D. Simon“, schreibt der Autor, „ist also als Wegbereiterin einer Professionalisierung Sozialer Arbeit zu sehen“. Schon während ihrer beruflichen Tätigkeit, insbesondere aber im „Ruhestand“ wirkte sie ehrenamtlich in mehreren Organisationen, u.a. als Vorsitzende des Vereins HPE (Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter). Eine Auswahl von Schriften Maria D. Simons, vor allem zu Fragen der professionellen Sozialarbeit, ergänzt den biografischen Teil des Buches. Zwei Beiträge sind mir dabei aufgefallen: Zum einen eine Würdigung des 1943 hingerichteten Widerstandskämpfers Karl Gröger, der ihr aus gemeinsamer Volksschulzeit in Wien in Erinnerung war. Gröger hatte mit einer niederländischen Widerstandsgruppe 1942 das Meldeamt von Amsterdam gesprengt und auf diese Weise potentielle jüdische Opfer gerettet. 1986 wurde er von Yad Vashem als einer von bislang 112 ÖsterreicherInnen als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet. In der zweiten biografischen Skizze wird an die sozialistische Widerstandskämpferin Anne Kohn-Feuermann erinnert, die 1938 mit Hilfe der Quäker über Paris nach Schottland emigrieren konnte, wo sie als Sozialarbeiterin wirkte. 1959 kehrte sie nach Wien zurück, wurde Leiterin der Ehe- und Familienberatung der Stadt Wien, fungierte als Vorsitzende des Bundes werktätiger Juden — Poale Zion und war auch im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes aktiv. Die Arbeit Jonathan Kufner-Egers zeichnet sich durch hohes Einfühlungsvermögen, durch kompetente zeitgeschichtliche und fachspezifische Kontextualisierung und wissenschaftliche Seriosität aus. Hervorzuheben sind auch der präzise Anmerkungsapparat sowie die Gesamtbibliografie und der übersichtliche Lebenslauf. Insgesamt ist dem Autor eine vorzügliche Arbeit gelungen, die dem Leben und Werk von Maria Dorothea Simon gerecht wird. Wolfgang Neugebauer Jonathan Kufner-Eger (Hg.): Aus der Betroffenheit. Zu Leben und Werk von Maria D. Simon. Wien: Locker Verlag 2023. 206 S. Euro 19,80 Die Heimat kann dem abhandenkommen, der an seinem Ort geblieben ist, und mit dem ziehen, der sie verlassen musste. „Im Wort ist meine Heimat‘, schrieb der Dichter Theodor Kramer, als er aus der österreichischen Heimat nach England hatte füehen müssen und dort jeden lag ein Gedicht in seinem unverkennbar österreichisch gefärbten Deutsch verfasste. In seinem Journal „Die Jahreszeiten der Ewigkeit“ schreibt Karl-Markus Gauß über Leben und Tod ebenso wie über tagesaktuelle Politik, übt Gesellschaftskritik, erzählt, was ihn beschäftigt, ärgert und ihm widerfährt und regt dabei zum nach- und mitdenken an. Dabei halten sich seine Freude an ausschweifenden Abschweifungen und seine Bewunderung aphoristischer Knappheit die Waagschale. Gern springt er von einem zum anderen und ist allzeit bereit fiir ausgelassene Schlenkerer aus reiner Lust und Laune. Unhinterfragte Zustimmung all dessen, was er von sich gibt, ware ihm selbst jedoch mehr als suspekt, dient ihm sein schreibendes Nachdenken doch oft als Selbsthinterfragung der eigenen Standpunkte und Ansichten: Mein Feind [...] Wir tranken und prosteten einander zu, ich schwadronierte dahin, und er gab mir recht. Er stimmte mir gewissermafsen prinzipiell zu, was ich in eitler Verblendung erst nach einiger Zeit bemerkte. Dann fragte ich mich, ob er der geborene Haussklave war, der auch jedem anderen zugestimmt hätte, oder es speziell auf mich abgesehen hatte: als mein Feind, der mich durch beständigen Zuspruch demoralisieren wollte. Gerade weil sich Karl-Markus Gauß oft über seine Mitmenschen ärgert, gibt er sich als Philanthrop zu erkennen, dem eben nicht gleichgültig MAI2023 73