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ist, was die anderen Menschen rund um ihn tun und denken, sondern der vielmehr rege Anteilnahme daran nimmt und selbst seinem selbstgesprächsführenden zufälligen Gegenüber im Zug aufmerksam zuhört. Philanthrop ist er auch in Hinblick auf sich selbst, da er sich als autobiographische Figur weniger als großen Dichter und Denker stilisiert, sondern vielmehr als Mensch unter Menschen zeichnet, mit seinen Schwächen, Unzulänglichkeiten und gelegentlich schlechter Laune — der er selbst aber meist mit humorvoller Selbstironie zu begegnen weiß, was ihn den Lesenden seines Buches durchwegs sympathisch macht: „So richtig fleißig bin ich nur im Faulsein.“ Und natürlich spielt er als autobiographisch schreibender Autor mit der Figur seiner selbst: Autobiographisch schreiben. Ich bin nicht die Voraussetzung, sondern das Ergebnis meines Schreibens. Ich bilde mich nicht ab, sondern erschaffe mir ein Selbstbild. Mit dem ich nicht verwechselt werden möchte, aber mich selbst längst zu verwechseln begonnen habe. Als Sprachmenschen interessieren ihn ausgestorbene Wörter ebenso wie die Bedeutungen von Worten in anderen Sprachen. Dass literarisch wertvolle Texte, selbst wenn sie Tagesaktuelles verhandeln, kein Ablaufdatum haben, sieht man beispielsweise an folgender Zitatstelle (geschrieben 2014 — 2019), die sich heute, iiber ein Jahr nach Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine, wie eine vorausschauende Erklärung von Putins Verhalten lesen lässt: Richard Swartz, der schwedische Schrifisteller, der ein Wiener Lokalpatriot des sechsten Bezirks ist und einige Monate im Jahr in Istrien lebt, erzählte mir, dass das serbische und kroatische „Inat“ im Wörterbuch mit Zank, Hader, Trotz übersetzt werde. Aber dieses türkische Lehnwort bezeichne nicht einfach einen beliebigen Hader, sondern einen Starrsinn, der bis zur Selbstvernichtung reicht: eine Art von Unnachgiebigkeit, die nicht von einem bestimmten Vorfall verursacht würde, sondern eine das Leben umfassend bestimmende Haltung ist. „Inat“ ist also der sehr männliche Hang zu einem Trotz, den Karren lieber in die Grube zu fahren als nachzugeben. Und sei es, dass man sich dabei selber ruiniert— man gibt nicht klein bei, sondern bleibt in unversiegbarem Groll bei seiner Entscheidung, bei seiner Sicht der Dinge. Bei der Lektüre von „Die Jahreszeiten der Ewigkeit“ kann man seine Sprachachtsamkeit neu kalibrieren und zugleich alle Sinne schärfen, um sprachliche Ungenauigkeiten oder auch Ungeheuerlichkeiten als solche zu erkennen und zu entlarven. Abenteuer. Im Nachruf auf einen hochbetagt verstorbenen österreichischen Juden steht herz- wie gedankenlos geschrieben, er habe ein abenteuerliches Leben gehabt. [...] Abenteuer? Als hatte er sich 74 — ZWISCHENWELT aus freier Entscheidung unbesorgt um bürgerliche Sicherheiten auf den Weg ins rettende Exil gemacht. Dass der literarische Kanon nichts Gegebenes, sondern ein im ständigen Wandel begriffenes und von Menschen geschaffenes Konstrukt ist, das zu begreifen ist ebenso wesentlich wie befreiend. Die Unabgeschlossenheit und Unabschließbarkeit des literarischen Kanons erstreckt sich nicht nur über die Gegenwart in die Zukunft, sondern auch rückwirkend in die Vergangenheit, da es wichtig ist, den überlieferten Kanon auch zu hinterfragen und gegebenenfalls zu überarbeiten und zu ergänzen. Ein meines Erachtens diesbezüglich sehr wichtiger Punkt ist die eklatante Unterrepräsentanz von Frauen in der Geschichtsschreibung allgemein in allen Sparten, nicht allein in der Literaturgeschichtsschreibung. Hier lässt sich bereits vielerorts ein Umdenken beobachten, doch wäre noch viel mehr zu tun. Karl-Markus Gauß wiederum regt an, den Kanon der Nachkriegsliteratur zu überdenken, der den Fokus oft zu sehr auf die Wiener Gruppe legt, und dabei die gesellschaftskritische Literatur der Zeit und gerade auch die Exilliteratur vergisst: Die gesellschafiskritische Literatur jener Jahre wurde in Wahrheit nicht nur, aber vornehmlich von Autoren und Autorinnen verfasst, die an die Struktur von Sätzen glaubten, vom Wert der Grammatik überzeugt waren und mittels Erzählund Sprachkunst den Mief, den alten und den neuen, verblasen wollten. Der Wiener Gruppe wirft Karl-Markus Gauß vor, dass sie einen Schlussstrich zog und weder an den Tätern, noch an den Opfern des Nationalsozialismus Interesse zeigte: Vergessen wurde Jura Soyfer ab Mitte der fünfziger Jahre nicht nur, weil nun das Bataillon schwer belasteter Nationalsozialisten wieder kulturpolitisch in Amt und Würden gesetzt war, sondern auch, weil eine junge Generation— namentlich die Wiener Gruppe - ihren eigenen Schlussstrich zog. Ihr ging es nicht mehr darum, die Täter von ihren Posten fernzuhalten, deren Sprache und Ideologie zu entlarven und nach den Opfern von gestern zu fragen, sondern an eine wie auch immer verstandene Avantgarde anzuschließen; diese hielten sie auch dann für eine edle, tragisch unverstandene und vom dummen Volk zu wenig gewürdigte Vorhut, wenn der Zusammenhang mit dem Faschismus etwa von den italienischen Futuristen selber hergestellt wurde. „Die Jahreszeiten der Ewigkeit“ regt aber nicht nur zum Hinterfragen an, sondern enthält auch zahlreiche Leseanregungen und -empfehlungen, wie den Dichter Humberto Ak’abal, einem Kiché-Indio aus Guatemala, dem er den Nobelpreis vergönnt hätte. Oder auch die kroatische Autorin Daga Drndié, die anders als die Autoren der Wiener Gruppe mit ihrem Schreiben keinen Schlussstrich unter die Geschichte zu ziehen versuchte: In einem formal verblüffenden Zwischenstück ihres Romans „Sonnenschein“ listet Dasa Drndic kommentarlos die Namen all der neuntausend italienischen Juden auf, die aus ihrer Heimat nach 1943 in Konzentrationslager deportiert wurden. Sie hört zu fabulieren auf, sie unterbricht die Geschichte der Familie Tedeschi, sie verbietet sich jedwede stilistische Brillanz: Auf fünfzig Seiten macht sie das Unerhörte, sie setzt mitten in einen Roman, der damit gewissermaßen zum Stillstand kommt, die Namen der deportierten und ermordeten italienischen Juden. Bei allem Ernst und aller Ernsthaftigkeit, mit der Karl-Markus Gauß sich seiner Umwelt und seinen Mitmenschen schreibend zuwendet, scheint er dabei aber doch von einer gewissen Grundheiterkeit oder positiven Grundeinstellung getragen zu werden: Man merkt, dass ihm das schreibende Erkunden der Welt allem Anschein nach nicht nur Pflicht ist, sondern vor allem auch große Freude bereitet: Bedenke, was der tschechische Regisseur Jiri Menzel bei der Feier zu seinem achtzigsten Geburtstag sagte: „Abgesehen davon, dass ich ein Genie bin, ist allzu große Bescheidenheit mein einziger Fehler.“ Astrid Nischkauer Karl-Markus Gaufß: Die Jahreszeiten der Ewigkeit. Journal. Wien: Paul Zsonlay Verlag 2022. 320 S. Euro 25,Notiz Heinrich Glücksmann und das Volkstheater Der Journalist, Schriftsteller und prominente Freimaurer Heinrich Glücksmann (1863 1943) wirkte von 1910 bis 1935 als Dramaturg am Deutschen Volkstheater und wurde 1933 als Bürger der Stadt Wien ausgezeichnet. 1941 flüchtete er zu einem seiner vier Söhne nach Argentinien. Im Februar wurde im Wiener Jüdischen Museum das Buch Heinrich Glücksmann. Brückenbauer in neue Zeiten, Beachtet, geschätzte, gefeiert, vergessen präsentiert. Dessen Autor Gerhard Friedrich berichtete, dass eine 1947 im Volkstheater enthüllte Büste von Heinrich Glücksmann nicht mehr auffindbar sei und dass das Haus unter der Leitung des deutschen Regisseurs Kay Voges die Anbringung einer vom österreichischen PEN-Club angeregten Gedenktafel abgelehnt hat. E.A.