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das Lager, das sich direkt nebenan befindet. Darüber hinaus wird er allerdings nur als Randfigur wahrgenommen, die durch ihr bedauerliches Schicksal einerseits Mitleid erregt, andererseits die Geschichte vorantreibt. Mit einem Verrat an Katharina stößt er jenen Prozess an, der den eigentlichen Stoff der Erzählung darstellt: Katharinas Erwachsenwerden. Der Gefangenenaustausch dient lediglich als Vorwand für das, was Arnost Lustig eigentlich entschlüsseln will: Die höchstkomplexe Innenwelt einer jungen Frau unter außergewöhnlichen Umständen. Der Verrat des Schneiders bleibt ohne Folgen und statt Katharina zu bestrafen, schenkt Brenske ihr sogar einen Nerzmantel, der aus dem Lagerfundus geholt wird. An dieser Stelle sei erwähnt, dass Arnost Lustig selbst gelernter Schneider war. Schließlich verlässt ein Zug mit einundzwanzig frisch eingekleideten Gefangenen, Arthur Brenske und einer Handvoll Wachen die Lagerrampe. Unterdessen erzählt man sich im Lager, wie Katharina einst auf einer Abendveranstaltung in Lodz tanzte, die schließlich von Deutschen überfallen wurde. Während alle anwesenden Frauen vergewaltigt wurden, konnte Katharina, die den Kommandanten bezirzte, entkommen. Während Katharina im Zug auf die verhüllten Zugfenster starrt, werden wieder und wieder Geldforderungen gestellt, und während Hermann Cohen eine Zahlungsanweisung nach der nächsten unterschreibt, nimmt die Runde geschlossen an, dass es wohl Katharina sein müsse, die in diesem Ensemble am wenigsten begreift. Doch ist es gerade sie, die als Erste zu verstehen beginnt, dass die Luft in den Waggons immer dünner und die Hoffnung auf Überleben immer kleiner wird. Katharina, vor wenigen Stunden noch ein Kind und fest überzeugt, Vater und Mutter wiederzusehen, ist auf dieser endlosen Zugfahrt mit ihrer eigenen Menschlichkeit konfrontiert. Sie schämt sich für den Wunsch zu überleben und empfindet sich selbst als feig. Lustigs Werkkonstruktion ist insofern reizvoll, als sie dem Leser einen Zugvorteil zugesteht — anders als die Gefangenen erhält er Einblick in die Innenperspektive derer, die den Austausch dirigieren. So kann er, lange bevor die entsprechenden Worte fallen, erahnen, dass die Geschichte das unvermeidbare Ende nehmen wird. Doch obwohl der Leser diesem unheilvollen Ausgang quälend lange entgegensehen muss, teilt er die hoffnungsvolle Naivität der Gefangenen. Es ist ebenjene Naivität, die die Herrschaften — egal auf welcher Seite der Front - Katharina ob ihres Alters unterstellen. Lustig beherrscht es eindeutig, den Leser mit dieser Diskrepanz zwischen Realität und Hoffnung in einen Zustand der inneren Zerrissenheit zu versetzen. Nach tagelanger Reise macht der Zug schließlich im Hafen Hamburgs Halt, die Zugfenster werden enthüllt und die Gefangenen dürfen einen Blick auf das imposante Schiff, das sie nach Übersee bringen soll, werfen. Zeitgleich wird Katharina an den Abgrund der Wahrheit herangeführt, der sich in den vergangenen Stunden in ihr aufgetan hat. Der Zug setzt sich, ohne seine Türen geöffnet zu haben, rückwärts in Bewegung und bringt sämtliche Insassen auf direktem Wege zurück ins Lager. Dort angekommen überschreitet Katharina schließlich die Schwelle vom Kind zur Frau. Sie weigert sich, vor den gaffenden Wachen ihre Kleidung abzulegen und in die Gaskammer zu gehen. Katharina, noch in den ihr geschenkten Nerzmantel gehüllt, begreift, dass Koketterie ihre einzige Chance ist. So streift sie sich erst langsam den Mantel vom Leib, anschließend die feinen Wäschestücke der Marke Dior. Als sie so die Aufmerksamkeit ihres Publikums ablenkt, kann sie einem jungen Wachmann seine Pistole entreißen und ihn mit dieser erschießen. Die Antwort folgt sogleich und Brenske lässt sie und die anderen Männer in die Gaskammer treiben. Dort stehen sie zunächst minutenlang regungslos im völligen Dunkel und spüren die Feuchtigkeit, die sie sich damit erklären, dass hier wohl kurz zuvor Menschen geduscht haben mussten. Zu der Erkenntnis, dass die Feuchtigkeit eine andere war, die Menschen jedoch dieselben, kommen sie nicht mehr - die Tür fliegt auf und der Raum wird vom Mündungsfeuer erleuchtet. Eine absurde Schlusspointe, die sich in einem zeitgenössischen Roman ob der umfassenden Information, die wir über das Grauen der Konzentrationslager mittlerweile haben, wohl nicht mehr finden würde, besteht im „jüdischen Sonderkommando“, das auf Brenskes Geheifß die in der Gaskammer wartenden erschießt. Lustig stattet mit Waffen aus, die Kugel, die Katharinas Schicksal besiegelt, entstammt dem Gewehr des Schneiders. Diese Pointe überschreitet die Grenze der Fiktion in Richtung Unwahrscheinlichkeit, denn auch Fiktion beruht auf Plausibilität, die wir hier vergeblich suchen. Arnost Lustig ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von „Ein Gebet für Katharina Horowitzova“ 38 Jahre alt und es stellt sich unweigerlich die Frage, wie ein erwachsener Mann die Empfindungen eines jungen Mädchens, das gerade erst in das Frausein eintritt, in ihrer Komplexität zu begreifen vermag. Eine Auseinandersetzung mit seinen Werken verrät: Lustig bemüht sich mehrmals, die Innenwelten von jungen Frauen zu ergründen. Bereits zwei Jahre vor Katharina Horowitzovä schrieb er über Dita Saxovä, welche das Konzentrationslager als einzige aus ihrer Familie überlebte und schließlich in tiefer Verzweiflung über ihre kargen Aussichten im Nachklang der Shoah den Freitod wählt. 1979 erzählt Lustig „Aus dem Tagebuch einer Siebzehnjährigen“, in welchem die junge Prostituierte Perla S. über ihre Zeit in Theresienstadt berichtet. Auch die Obsession eines männlichen Schriftstellers mit der weiblichen Sexualität und Erleben derer ist in der tschechischen Literatur nicht einmalig, Milan Kundera präsentiert sie uns in fast jedem seiner Bücher. Warum Lustig, der von 1995 bis 1997 Chefredakteur der tschechischen Ausgabe des Playboy war, sich in die Lebensrealität junger Frauen hineinversetzt, um anschließend seine Erkenntnisse in seiner Literatur glaubhaft zu machen, bleibt offen. Was Katharina anbelangt, so gibt sich diese in ihrer Naivität nicht preis. Lustig sucht in der Unschuld von Katharinas Resilienz und ihrer jugendlichen Reinheit fast schon pädophil anmutend einen Maßstab des moralisch Guten und Schönen. Die Realität des Lagers ist eine Situation der absoluten Unrechtmäßigkeit, die eine vollständige Absenz von Moral bedeutet. In die sich daraus ergebende Lücke versucht Lustig Katharina zu zwängen. Lydia Potensky Arnost Lustig: Ein Gebet für Katharina Horowitzovd. Aus dem Tschechischen übersetzt von Peter Sacher. Frankfurt am Main: Luchterhand 1991. 1965. Zuletzt noch ragt ihr als ein Stück Schlauch das 20. Jahrhundert aus dem Mund. Es ist das letzte Jahr vor der Jahrtausendwende. Für die Totenbeschau, heißt es, sei das Personal angehalten, die Verstorbenen so zu belassen, wie sie aufgefunden werden. Verwandte aber müssten geschont werden. Der Schlauch im Mund erschreckt die Familienangehörigen. Ein „obszöner Fremdkörper im friedlichen Gesicht ... Warum haben sie den drinnen gelassen? Den braucht sie doch jetzt nicht mehr.“ (S.8) So der nüchterne Befund Ediths am Totenbett MAI2023 77