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der Schwester. Wo Klaras Leiden endet, entfaltet sich der Roman eines 46-jährigen Frauenlebens, das über Dutzende Neuanfänge und Rettungsversuche kaum hinauskommt. Das trotz bester familiärer Voraussetzungen und auch persönlicher Glücksmomente immer ins Stocken geraten ist. Rückblickend stellt sich die Frage: Waren das alles nicht sich wiederholende, zumeist ähnliche Prozeduren, die an Klara versucht wurden? Und alle sind immer zu spät gekommen, „die Katastrophenmeldungen ...“ waren längst „zur Gewohnheit“ (S.11) geworden: praktisch von Geburt an medizinisch begründete Intubationen, gut gemeinte Einflussnahmen, die Klara das immer wieder gefährdete Leben gerettet haben. Oder es hätten retten sollen. Noch Stunden nach dem einsamen Ersticken ragt etwas davon aus dem endlich friedlichen Gesicht. Ein „Stück Schlauch, mit dem sie bis zuletzt am Sauerstoff angeschlossen war ...“, „Zeuge ihrer letzten Stunden.“ (S.8) — Kann ein Schlauch ein Zeuge sein? Ein Indiz ist er wohl. Wofür ein Indiz? Es liegt kein Verbrechen vor. Ein Indiz für ihre letzte, und wohl auch für ihre lebenslange ... Nun was? Das bezeugende Indiz gemahnt zunächst an Vereinzelung, Verlassenheit in ihren letzten Lebensstunden. Klara ist ohne Beistand am frühen Morgen im Spital gestorben. Nach der Lektüre dieses leichtfüßig und detailreich erzählten Romans sieht es für mich so aus, als hätten sich die Katastrophen des 20. Jahrhunderts in Klaras Leben - und folglich auch für ihre Angehörigen — noch fortgesetzt. Die Eltern waren jüdische Rückkehrer: „Im Internierungslager habt ihr euch kennengelernt, du und Papa, nicht wahr?“ „Dein Vater war dort als internierter Arzt tätig und ich als Krankenschwester.“ „... und habt euch ineinander verliebt!“ „Ja.“ Mutter lächelt. (S.17) Kurz nach dem Krieg haben sie sich in Wien mit der noch im französischen Exil geborenen Tochter Edith wieder gefunden. Sie hätten allen Grund gehabt, stolz darauf zu sein, was sie für ihr Land in seiner größten Bedrohung geleistet hatten. Und sie traumten davon, das in den Lagern Erlebte unschadlich zu machen und zu vergessen. Die Anpassungsleistungen der Eltern im naziverseuchten Nachkriegs-Osterreich waren tatsachlich enorm. Den Kindern haben sie lange nicht von früher erzählt. Der aus Wien stammende Vater war Offizier der siegreichen Befreiungsarmee gewesen, (S.14) für einen Neustart in Österreich eigentlich eine starke Ausgangs-Position. Er sollte am „Aufbau des zerstörten Landes mitwirken“ (S.14), „mithelfen, ein antifaschistisches Land aufzubauen, wie's so schön hieß.“ (S.24) Die Partei hatte es ihm befohlen und deswegen war er zurückgekehrt. Ob er 1945 „wirklich, im Grunde seines 78 _ ZWISCHENWELT Herzens zurückwollte“ (S.24), wo er als junger Medizinstudent verfolgt und vertrieben worden war? „Eine neue, bessere Zeit würde angehen, er würde sie aktiv mitgestalten. Alles vergeblich, keiner seiner Träume wurde Wirklichkeit.“ (S.53),,Die politische Aufbautatigkeit war ihm (von Frankreich aus gesehen, Anmerkung B.M.) auch wichtig“ (S.24), hérte Edith von ihrer Mutter. Auch sie wollte „normal leben, keine Angst mehr haben, nicht mehr fliichten, mich nicht mehr verstecken müssen.“ (S.24) Es scheint, dass nicht einmal Letzteres sich für die junge Familie in Wien erfüllt hat. „Sie zogen sich ins Private zurück. Die wenigen überlebenden Freunde lebten anderswo, meist in Frankreich oder den USA. Das Familienleben, die Kinder wurden zum Lebensziel.“ (S.53) Sie mussten mit keiner neuen Sprache zurechtkommen (Die Mutter als Norddeutsche und ohne formelle Ausbildung hatte sehr wohl große Anpassungsschwierigkeiten ...), aber eigentlich lebten sie hier in Wien wie Exilierte, mit eingezogenen Köpfen und bedacht auf ihren gesellschaftlichen Aufstieg. Die beiden älteren Kinder Fdith und Andreas entwickeln sich gut, sind erfolgreich. Die Eltern können stolz auf sie sein. Edith, die ihre ersten Jahre im französischen Untergrund, teilweise auch im Internierungslager verbracht hat, war die Hoffnungsträgerin der Eltern, Kind ihres kämpferischen Überlebenswillens. Andreas, den Zweiten, retteten wohl sein Cembalo und die Musik. Klara hingegen wird die Erwartungen ihrer Eltern enttäuschen. In dieser Familie hätte sie etwas werden müssen. Als Leserin bekomme ich den Eindruck, dass Klara postgenerativ unterbewusst und wie justament etwas fortsetzte, was ihre Eltern vergessen wollten: Auch sie haben Identitäten gewechselt, bei Klara wurden Identitätsentwürfe zu „Lügen“. War das ihr Part? Hat dieses nachgeborene Mädchen, „nicht geplant und eigentlich nicht gewünscht“ ($.55), den politischen Widerstand der Eltern im Krieg lange später noch, im Zustand des Gerettetseins im Exil der „Heimat“, gespiegelt? Und so ins Privatpolitische getragen? Wenn sie nie gesund sein konnte und auch nicht wollte? Sich nicht einfinden konnte, nie und niemals? „Ihre Ausdauer und Energie schienen keine Grenzen zu kennen.“ (S.68) Ihre „ganz eigene Persönlichkeit“ konnte „in diesem gehobenen, bürgerlichen Bildungsmilieu kaum gewürdigt“ (S.112) werden, wie ein sehr anschauliches Beispiel zeigt: Klara wollte der Mutter einmal etwas Besonderes zum Geburtstag schenken, „eine ganze Leberwurst und eine halbe Krakauer. Sorgfältig verpackt sie beide und versteckt sie in ihrem Kleiderschrank. Zwei Wochen müssen noch vergehen ...“ (S.111) Es ist leicht auszumalen, was die Mutter aus dem Paket auswickelt: „Du liebe, liebe Klara!“ (S.111) ruft sie. Edith wird 23 Jahre lang akribisch Dokumente und Erinnerungen sammeln und vor allem: Sie wird sich dabei wiederholt an die Verstorbene richten, um ihr das zu Lebzeiten Vorenthaltene zu erzählen. Wie alles gekommen ist. Sie wird berichten, was sie herausgefunden hat und was sie bezeugen kann, indem sie sich nochmals der eigenen Geschichte und der Geschichte ihrer Eltern vergewissert. Schreiben wirkt. Schreibend wird sie das Verhängnis festmachen, es weg- und fortschreiben, es öffentlich machen. „Dieses schwierige Buch! Trotzdem ...“ (Teil der Widmung der Autorin im Exemplar der Verfasserin.), es ist eine Offenbarung, weil Erzählen die Sinne gebraucht. Auch mich, die Zeitgenossin und Nachleserin, befreit es, obwohl meine Hypothek eine ganz andere ist. Ich konnte mich einfühlen, hineindenken in diese Lebensgeschichte, die, ausgehend von der letzten Station in verschiedenen Erzählpositionen variierend, spannend aufgebaut ist. Die Leserin kommt gerne mit. Leichtfüßig geleitet uns die Autorin an mehr oder minder vertraute Schauplätze eines, sagen wir einmal, missglückten Lebens. Nein, so kann man das nicht sagen, dass es missglückt ist! Das war nicht immer hoffnungslos. Klara selbst, so scheint es, hatte alle Ansätze von möglicherweise gelingenden Schritten geradezu genial vermasselt. Auffallend, dass sie bereits bei ihrer Geburt wie ein Missverständnis in der Familiengeschichte gehandelt wird. Dieses Missverständnis musste fortan als eine Lebensaufgabe von allen Familienmitgliedern aufgeklärt werden. So geschen ist der Name „Klara“ gut gewählt. Wie war das möglich in einer auch diesem Kind liebevoll zugewandten Arztfamilie? Haben nicht Mutter, Vater, Bruder, Schwester, alle, keine Mühe gescheut und nichts unversucht lassen, um Klara auf die Beine zu helfen? Ich bleibe immer noch hängen am „Schlauch“. Hat nicht Klaras gesamtes Leben Anstoß, ja Ablehnung erregt? Am Schluss ist für Edith nur mehr der Schlauch im Mund eine Zumutung. Für mich ist der Schlauch Indiz für den gesamten Hergang: Der Schlauch war's. Das habt ihr mit ihr gemacht. Ein Indiz? Für — Gottverlassenheit? Wohl nicht. Gott schlaucht, ja. Aber Gottes sind Schläuche nicht. Gott überlässt sein Wirken dem Geschiebe der Menschen im Fluss der Geschichte. Diesseitig unentrinnbar der Sog vom Ursprung bis zur Mündung. Zuflüsse, Nebenarme, Einflüsse, unterirdische Verläufe, Versandung, Versickern, Einspeisungen, Abflusshindernisse, Eisstau, Sichttiefen, Selbstreinigung, Schwebstoffe, Sauerstoffsättigung, Mäander, Anschwemmungen. So auch in Klaras Leben. Ausgetrocknet erscheinende Flüsse können unterirdisch fließen, an anderen Stellen wieder zum Vorschein kommen. Im Leben? Leben bedeutet