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Atmen, Essen, psychosozialer Austausch, Artikulationen des Eigenen gegenüber dem Umgebenden. Was, wenn Menschen dazu nicht in der Lage sind? Wenn ein Menschenwesen für das Anpassungsleistungsprinzip nicht geeignet ist? Oder damit nicht zurecht kommt? Sich verweigert? Nämlich, wie schon der Buchtitel verspricht, einfach nicht mitspielt? Zum Schluss ragt ein Stück des hochleistungsfähigen Katheders, von geübten Spezialisten als letzter Belebungsversuch an ihrem Körper angebracht, aus dem Leichnam. Das als „obszön“ zu bezeichnen, ist ein Indiz für die Vorgeschichte. Edith erzählt von unzähligen An-Nabelungsversuchen an die umgebende Welt. Vielfältig, phantasievoll, manchmal auch effektiv waren sie. Penetrant waren sie vermutlich auch oft. Da war nicht nur Sauerstoffzufuhr bei Klaras AsthmaAnfällen. Es gab pädagogische, therapeutische, psychologische Interventionen. Von all dem wurde Klara nur geschlaucht. „Schlauchen“ ist ein Begriff aus der Militärsprache, bedeutet aufbürden, auferlegen, aufladen, belasten, bepacken, beschweren, aufzwingen. Der Schlauch als Indiz. Klara widerstrebte. Klara entzog sich. Sie wollte einfach nur leben. In Ausnahmefällen ist es gelungen. Altersmäßig zwischen den Schwestern bin ich deren Zeitgenossin. Die Geschichte Klaras löst bei mir den bitteren Geschmack von selbst Erlebtem aus. Ich kenne den Schlauch im Mund. Um uns schon möglichst früh anzuschließen. Um uns zu sedieren. Um uns dranzuhalten. Eine Gewaltanwendung? Edith ärgerte sich über den Schlauch, nannte ihn „einen obszönen Fremdkörper“... „Den braucht sie doch jetzt nicht mehr.“ Hat Klara ihn JE gebraucht? Die Maßnahmen der Zufuhr von zivilisatorischen Errungenschaften sollten doch hinter dem Vorhang bleiben, nur Ergebnisse sollen erinnert werden. Da ist jemand, die es nicht mehr gebraucht hätte: eine Nachzüglerin, die nach dem bereits erfüllten Kinderwunsch ihrer im Nachkriegsösterreich nicht wirklich angekommenen, nicht wirklich aufgenommenen Eltern unerwartet auf die Welt drängte. Trotzdem. Etwas musste mit Klara zur Klärung kommen. Deshalb von Anfang an Atemnot. Immer musste sie so viel schreien. Auffallen mit echten und selbsterfundenen Krankheiten. Aufmerksamkeit erregen. Mit Widerborstigkeit. Mit undankbarem Betragen. Mit Fluchten. Klara schrie um Zuwendung, um Verständigung, um Eigenständigkeit, um Verständnis. Vor allem um Klarheit. Wenn ich eine Metapher finden müsste für die Versäumnisse der Nachkriegszeit, dann ist es genau das: Schläuche im Mund. Lebenslang Zufuhr von Irgendwas. Ersatzprogramme für die Iragödien des Verschweigens. Dass sie bis zuletzt daran „angeschlossen“ geblieben ist, fällt angesichts der späteren Erzählungen ins Gewicht. Der Schlauch hat Klaras Leben definiert, mit dem Schlauch im Mund ist sie gestorben, er allein war ihr Anhänger bis zuletzt. Voilä ein Roman, der kein Roman ist. Genauso wenig wie das erste Buch von Susanne Pollak, „Familientreffen“ (1994, „Familientreffen. Eine Spurensuche. Roman“, 2. Auflage 1998, Picus) ein Roman war. Aber vielleicht sind alle in Erzählung gegossenen Transkriptionen von Schicksalen „ein Roman“. „Ich könnte dir einen Roman erzählen“, heißt es, wenn jemand sich geschlaucht fühlt und sich Luft machen möchte. Erhellende Klärungen von Klaras Leben gab es erst nach 23 Jahren. Gut, dass die Autorin sich so lange Zeit gelassen hat. Bei der Präsentation des Buches im Bezirksmuseum Josefstadt am 13. 10. 2022 gewinnt ein Glücksmoment an Kontur, der sich auch nach der Lektüre einstellt. Klaras Leben trägt Früchte. Denn ausnahmsweise hatte sie schon auch gelebt! Und manchmal gelingt etwas erst posthum — durch die Erzählung der „Mikrohistorie“, wie Carlo Ginzburg sich mir in Erinnerung gerufen hat (Tina Walzer, „Geschichte ist keine Festung, sondern ein Flughafen. Carlo Ginzburg über die Mikrohistorie und seinen beruflichen Werdegang. Interview, Teil II. In: DAVID -jüdische Kulturzeitschrift Nr. 134, September 2022, Seiten 52-55.). Susanne Pollak hat ihren „Gegenstand gleichsam unter dem Mikroskop“ analysiert, voll Zuneigung und „unabhängig von seiner buchstäblichen oder symbolischen Größe.“ (Tina Walzer, S.54) Eine Schwester, eine Tochter, eine Mutter, eine Großmutter .... Von einer sehr eigenwilligen Person wird erzählt. Und wir dürfen annehmen: Es ging gut aus. Brigitte Menne Susanne Pollak: Klara spielt nicht mit. Wien: Picus 2022. 2125. Euro 24,In einer Villa in der Himmelstraße 55 in Grinzing lebte Ernst Martin Benedikt (1882 - 1973), ab 1920 in der Nachfolge seines Vaters Moriz Benedikt Eigentümer und bis 1934 Chefredakteur der Neuen Freien Presse. Er war ein sehr begabtes Kind, lernte Klavier bei Theodor Leschetizky, er „schrieb, dichtete, zeichnete und komponierte“, in den Worten von Strouhal. Nach dem Tod seines älteren Bruders Karl musste er das Erbe seines Vaters antreten. Seine Ehefrau Irma (1879 - 1969) war die Tochter des Dramaturgen und Journalisten Alexander (Sändor) Rosen. Irmas Mutter, die Schauspielerin Bertha Ad£le Pipping, war die Tochter des finnlandschwedischen Parlamentsabgeordneten Knut Theodor Pipping. Auch die vier Töchter des Paares, Gerda (1915 - 1970), Friedl (1916 — 1953), Ilse (1918 - 1969) und Susanne (1923 - 2014) erbten die schriftstellerischen und kiinstlerischen Interessen und Begabungen des Vaters. In der Himmelstraße 45 lebte noch Adele Benedikt, geborene Krohn, (1847 - 1935), die Witwe von Moriz Benedikt. Sie war hochgebildet, eine exzellente Pianistin; als Journalistin verfasste sie viele Rezensionen. Für die Erziehung der Schwestern spielte sie eine große Rolle. Susanne beschrieb sie als „eine Inkarnation alles Guten und Anständigen und gefühlsmäßig wie geistig Erhabenen. Sie verkörperte Ehrenhaftigkeit und Stabilität.“ Im Gegensatz zu seinem Vater sympathisierte Benedikt mit dem Zionismus; er stellte Wolfgang von Weisl und Arthur Koestler als Korrespondenten in Palästina ein. 1932 verkaufte Benedikt die Hälfte seiner Anteile an der Zeitung an ein Konsortium um Stefan von Müller. 1934 schied er nach einem Streit mit Müller (Strouhal nennt keine Details) aus der Redaktion aus. Müller, der zum Christentum konvertierte Sohn des Orientalisten David Heinrich von Müller, wurde Chefredakteur; im Mai 1938 beging er Selbstmord. Ab 1934 schrieb Benedikt Biografien über Fürst von Ligne und Joseph II., die 1936 und 1937 erschienen, und hielt literarische Vorträge. Zu den Gästen in den dreißiger Jahren gehörten Richard Beer-Hofmann, Arthur Schnitzler, Hermann Broch, Jakob Wassermann, Thomas Mann, Emil Ludwig, Bronislaw Huberman und Bruno Walter. In der Himmelstraße 30 wohnten seit 1935 Elias und Veza Canetti. Friedl las Canettis Roman Die Blendung, der 1936 erschien. Sie freundete sich mit dem jungen Autor an und wollte ebenfalls Schriftstellerin werden. Auf langen Spaziergängen wurde sie seine Schülerin, und sie lernt auch Canettis engen Freund Abraham Sonne kenne. Voll Dankbarkeit schrieb Friedl in einem Brief, wie unglaublich gut Canetti zu ihr gewesen sei. Später wurde sie auch seine Geliebte. 1938 flüchtet Friedl nach London, wo sie vorerst in Hampstead bei ihrer Tante wohnte. Unter dem Pseudonym Anna Sebastian wurde sie eine erfolgreiche britische Schriftstellerin; ihr MAI2023 79