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erster Roman Let Thy Moon Arise erschien 1944 bei dem renommierten Verlag Jonathan Cape. In Familienbriefen 1944 und 1945 berichtete sie auch von Besuchen Theodor Kramers. 1947 lebte sie ein Jahr lang in Stockholm, wo sie Peter Weiss kennenlernte. Strouhal zitiert aus ihrer Erinnerung an Weiss, der über sie in dem Roman Fluchtpunkt schrieb. Ihre Freundschaft mit Canetti litt jedoch unter anderen Beziehungen. Mit dem Schriftsteller Willy Goldman, verheiratet mit der Wiener Psychologin Frieda GoldmanEisler und 1940 Autor der lesenswerten Erinnerung East End. My Cradle, hatte sie 1945/46 eine Beziehung; ein Kind wurde abgetrieben. 1950 schrieb sie nach einem Besuch Osterreichs den Bericht „Diary ofa Journey Home“. In Italien verliebte sie sich in den Amerikaner Allan Forbes. Das Paar plante die Heirat, aber 1951 erkrankte Friedl an Lymphdrüsenkrebs. Forbes und Canetti betreuten sie bis zu ihrem Tod in Paris. Auch Gerda fliichtete 1938 nach London; sie arbeitet als Sekretärin für Stefan Zweig (ein Schulfreund ihres Vaters im Wasagymnasium) und Sigmund Freud, für Verlage und erhielt dann eine Anstellung im Foreign Office. Dort fälschte sie rund 500 „Visa, um Menschen vom Kontinent zur Flucht zu verhelfen.“ 1939 heiratete sie den Arzt und Psychoanalytiker Alfred Grünwald, 1940 ging das Paar in die USA, 1941 anglisierten sie ihren Familiennamen zu Corvin. Alfred Corvin etablierte seine psychoanalytische Praxis auf der Upper East Side. Zu den engsten Freunden des Paares gehörten Alfred und Sylva Farau. Gerda arbeitete für die Association for the Help of Retarded Children. Aber sie fühlte ich in New York nicht wohl. 1959 beschrieb sie in einem Brief an Ilse die Stadt als „eine unbeschreibliche Monstrosität“, sie sei „ein scheusslicher, dampfender, stinkender, kreischender, moerderischer Hexenkessel, ein drohender, gefaehrlicher Dschungel.“ 1963 ließ sich das Paar scheiden. Nach Gerdas Tod vernichteten ihre Söhne Steve (Stephen) und Michael, der in eine orthodox jüdische Familie einheiratete, den Großteil ihrer Korrespondenz. Der Autor des Buches, geboren 1957 in Wien, ist der Sohn der dritten Schwester Ilse. Auch sie lernte Klavier, unter anderen bei Paul Wittgenstein; ab 1936 studierte sie Medizin und engagierte sich im illegalen Roten Studentenverband. Am 22.März 1938 flüchtete sie in die Schweiz, wo sie ihr Studium abschloss. Sie hatte Kontakte zu Alfred Klahr (Ludwig Lokmanis, 1904 - 1944) der bei ihr wohnte und mit dem sie korrespondierte, und wurde 1941 verhaftet. Im Oktober 1942 erhielt sie eine Anstellung im Zürcher Kinderspital. Im Juni 1945 gelang ihr mit einem Auto voller Medikamente die Reise nach Wien. Ihr Bericht „Drei Monate in Wien“ 80 ZWISCHENWELT wurde in der Schweiz in den Oesterreichischen Nachrichten veröffentlicht. Im November 1945 kehrte sie nach Wien zurück. 1946 heiratete sie den Wiener kommunistischen Kaufmann und Journalisten Emil Huk, den sie in der Schweiz kennengelernt hatte. Huk wurde Personalchef der USIA Betriebe, Ilse wurde Betriebsärztin für den Globus Verlag und eröffnete 1948 eine Praxis als praktische Ärztin im Goethehof. 1962 starb ihre Tochter Irma bei einem Verkehrsunfall. 1969 erkrankte sie an Lungenkrebs. Ilse war es auch, die den mühsamen Kampf um die Restitution der Villa betrieb, die schließlich an den Darmhändler Adolf Frey verkauft wurde. Das Geld wurde teils für die Tilgung von Schulden von Ernst und Irma in Schweden verwendet und ging teils in einer Fehlinvestition verloren. Die jüngste Schwester Susanne wurde im Juni 1938 von ihrer finnlandschwedischen Tante Aline von Wien nach Finnland gebracht. Nach ihrer Matura 1942 in Stockholm schrieb sie für Zeitungen und arbeitete als Sekretärin für den Bankier Friedrich Warburg. Als Auslandskorrespondentin arbeitete sie für den Daily Telegraph und für CBS. 1945 war sie die erste alliierte Korrespondentin im befreiten Kopenhagen. Ebenfalls 1945 wechselte sie zur United Press, später zur Associated Press. Ab 1951 arbeitete sie für Radio Free Europe in Schweden und ab 1952 bis zu ihrer Pensionierung 1990 in Paris. 1956 heiratete sie Silvio Ovadia, der in Paris und Istanbul aufwuchs, 1960 kam ihre Tochter Karina zur Welt, die später „ihr Interesse für das Hebräische und die jüdische Kultur“ entdeckte. Bis 1938 hatte die jüdische Herkunft des Vaters für die Schwestern keine Rolle gespielt. Die Familie feierte Weihnachten. Ilse erinnerte sich: „Ich war nie ein ‚jüdisches Kind‘, wir waren Grinzinger Kinder. Zu Juden hat uns Hitler gemacht.“ Nach dem Novemberpogrom wurde Ernst Benedikt fünf Tage lang gefangengenommen. Uber diese traumatische Erfahrung schrieb er einen fast fünfzigseitigen berührenden Bericht an seine Töchter, aus dem Strouhal ausführlich zitiert. Im Mai 1939 wurde die Villa durch Hanns Ferdinand Josef Kropff, Psychologe und NSDAP-Mitglied arisiert. Die 6000 Bände umfassende Bibliothek und die Kunstsammlung, die in Sophie Lillies Handbuch der enteigneten Kunstsammlungen Wiens aufgelistet ist, wurden verkauft. Ernst und Irma Benedikt flüchteten über London nach Stockholm, wo sie im Juni 1939 eintrafen. Ernst Benedikt hielt Vorträge, schrieb für die Österreichischen Monatsblätter und die Judisk Tidskift (Jüdische Zeitung), zum Beispiel 1944 den Artikel „Die Stellung der Juden gegenüber einem neuen Deutschland.“ Nach 1945 arbeitete er als Skandinavienkorrespondent für Die Presse, und er begann zu malen. Seine Bilder signierte er als „Ernst Martin“; einige wurden 1944 vom Nationalmuseum angekauft. 1963 kehrte das Paar nach Wien zurück; in der ersten Zeit lebten sie in den Pensionen Baltic und Atlanta. Irma fühlte sich wie in Schweden einsam; ihr Mann habe, wie sie schreibt, „das traurige Gefühl, hier den Boden für seine journalistische Tätigkeit verloren zu haben.“ Sie verkauften Schmuck und Reste der Bibliothek und lebten von einer schwedischen Sozialrente. Ernst schrieb an historischen Dramen, die er seiner Ehefrau diktierte. Außerdem verfasste er seine Erinnerungen. 1968 las der Schauspieler Otto Kerry in Anwesenheit des Autors aus deren Manuskript in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur. Irma starb 1969 sechs Wochen nach ihrer Tochter Ilse. Die letzten drei Jahre verbrachte Ernst im Altersheim für Künstler in Baden bei Wien. Aus mehreren Tausend überlieferten selbstironischen Briefen - der Hauptquelle des Buches - zeigt Strouhal, wie er schreibt, dass es den Schwestern gelingt, „über das Medium Brief so etwas wie Familiarität in der Diaspora herzustellen.“ Ein Treffen aller vier Schwestern fand nach 1938 nicht mehr statt. Dieses preiswürdige, gut geschriebene Buch bereitet vor den Lesern ein faszinierendes Panorama der Wiener jüdischen Kultur- und Pressegeschichte und ihrer Fortsetzung im Exil aus. Eine Biografie über Ernst Benedikt mit besonderer Berücksichtigung seiner Zeit des Exils in Schweden wäre ein Forschungsdesiderat. Ernst Strouhal lehrt an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Er ist ein Experte für das Schachspiel, das auch alle vier Schwestern beherrschten. Zum Thema Schach kuratierte er 1996 für das Wiener jüdische Museum die Ausstellung Ein Lied der Vernunft. Mit Michael Ehn publizierte er 1998 das Buch Lufimenschen. Die Schachspieler von Wien. Die beiden veröffentlichen im Standard auch die wöchentliche Schachkolumne rufund ehn. 1999 publizierte Strouhal mit Hans Petschar und Heimo Zobernig mit dem Buch Der Zettelkatalog. Ein historisches System geistiger Ordnung das Denkmal einer faszinierenden Epoche der Bibliotheksgeschichte. Evelyn Adunka Ernst Strouhal: Vier Schwestern. Fernes Wien, fremde Welt. Wien: Zsolnay Verlag 2022. 414 S. Euro 28.80.