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Der jüdische Journalist und Schriftsteller Mark Siegelberg war einer der 150 österreichischen Häftlinge, die am 1. April 1938 mit dem ersten Transport von Wien in das KZ Dachau gebracht wurden. Sein nach der Entlassung aus dem KZ Buchenwald im Sommer 1939 verfasster und 1940 in Shanghai herausgebrachter autobiografisch orientierter Roman „Schutzhaftjude Nr. 13877“ war die erste Publikation eines Österreichers über diesen sogenannten „Prominententransport“ und die Haft in Dachau und Buchenwald 1938/39. Dieses Buch ist meines Wissens nur im DÖW und in der Deutschen Bibliothek (Frankfurt a. M., bzw. in einer elektronischen Reproduktion in Leipzig, 2013) vorhanden. Zwar hatte der mit Siegelberg deportierte Sportjournalist Maximilian Reich schon Ende 1939 in London einen derartigen Bericht veröffentlichen wollen, aber damals keinen Verleger gefunden; seine Arbeit erschien erst posthum 2007 („Zweier Zeugen Mund‘). Mark Siegelberg und Maximilian Reich waren in den ersten Dachau-Iransport nicht aufgrund ihrer Prominenz gekommen, sondern weil jüdische Journalisten, wie auch Kabarettisten und Schriftsteller, ein Feindbild ersten Ranges für die NS-Machthaber waren und schon in den vom SD in Berlin vor dem „Anschluss“ erstellten Proskriptionslisten vorrangig erfasst wurden. Der 1895 in Kiew, nach anderen Angaben in Luzk (damals Russland, heute Ukraine) geborene Siegelberg kam auf der Flucht vor Pogromen mit seinen Eltern schon bald nach Wien, besuchte ein Gymnasium und absolvierte ein rechts- und wirtschaftswissenschaftliches Studium (Dr. jur. und Dr. rer. Pol.). Beruflich arbeitete er ab 1922 als Journalist bei diversen Wiener Zeitungen; von 1934 bis 1938 wirkte er als Chefredakteur des links-liberalen Boulevardblattes „Die Stunde“, das in den zwanziger Jahren von dem berüchtigten, von Karl Kraus angefeindeten Imre Bekessy gegründet worden war. Nach seiner Entlassung aus dem KZ 1939 arbeitete Siegelberg in der chinesischen Metropole Shanghai, das damals viele, anderswo abgewiesene Flüchtlinge aus Europa aufnahm und einen zumindest teilweise internationalen, multikulturellen Charakter hatte, wieder als Journalist bei Exilzeitschriften wie „Ihe Shanghai Herald“ und ,,Shanghai Jewish Chronicle“, und verfasste mehrere Dramen. Mit dem gleichfalls aus Österreich stammenden Hans Schubert schrieb er das 1940 im Britischen Konsulat uraufgeführte Drama „Die Masken fallen“. Die antifaschistische Publikations- und Kulturarbeit geriet ins Visier der deutschen Botschaft und der japanischen Machthaber, sodass die Briten Siegelberg, seine Frau und einige andere gefährdete Personen Ende 1941 nach Australien evakuierten. Wie auch viele andere Vertriebene musste Siegelberg hier etliche „Brotberufe“, u.a. Möbelverkäufer, ausüben, ehe er ab 1954 wieder als Journalist tätig werden konnte. Bis zu seiner Pensionierung 1968 fungierte er als Herausgeber der deutschsprachigen Wochenschrift „Neue Welt“/“New World“, die als Plattform für die deutschsprachige Gemeinschaft und deren kulturelle Aktivitäten in Australien wichtig war. In dieser Zeitschrift erschien 1957 bis 1959 in 7Oteiliger Fortsetzung der Roman „Ein Mann namens Brandt“. 30 Jahre nach seinem gewaltsamen Abtransport kehrte Mark Siegelberg nach Österreich zurück und starb 1986 in Katzelsdorf/NO. Die vorliegende Publikation umfasst zwei Arbeiten Siegelbergs, den autobiografischen Roman ,,Schutzhaftjude Nr. 13877“ (ca. 130 Seiten) und den umfangreichen fiktionalen Tatsachenroman ,,Ein Mann namens Brandt“ (fast 400 Seiten) sowie ein ausgezeichnetes, informatives und niveauvolles Nachwort des Herausgebers Tomas Sommadossi (ca. 20 Seiten). Als Historiker fokussiere ich meine Rezension auf den autobiografischen Roman. Meine Sichtweise auf das KZ Dachau war durch den Umstand geprägt, dass ich mehr als ein Jahrzehnt mit ehemaligen Dachau-Häftlingen, anderen KZ-lern und RemigrantInnen in einem Zimmer arbeitete und dort quasi täglich Oral History erfuhr; auch mit vielen anderen DachauHäftlingen, namentlich Ludwig Soswinski, Fritz Bock und Ernst Federn, hatte ich im DÖW und dessen Umfeld immer wieder zu tun. Schließlich wurde in den 1980er Jahren ein großes Oral-History-Projekt des DÖW unter meiner Leitung durchgeführt, das sowohl Widerstand als auch KZ und Fxil umfasste. Wenn ich dieses Wissen mit dem Bericht von Mark Siegelberg konfrontiere, komme ich zu dem Ergebnis, dass seine Pionierarbeit sich nicht grundlegend von Aussagen und Berichten anderer Zeitzeugen unterscheidet, dass seine romanhaft gestaltete Autobiografie sich an tatsächlichen Begebenheiten, politischen Entwicklungen und Personen orientiert und ihr ein hohes Ausmaß an Authentizität zukommt. Dazu trugen auch die Abfassung des Textes und dessen Veröffentlichung in unmittelbarer Folge des Geschehenen bei. Dazu nur ein Beispiel: Siegelbergs Bericht über das Ende 1938 im Lager entstandene Buchenwald-Lied (Text Fritz Löhner-Beda, Musik Hermann Leopoldi) ist nicht nur die erste Darstellung der Entstehung, sondern auch die erste Veröffentlichung dieses „Klassikers“ der KZ-Kunst, wobei die Namen der Schöpfer 1940 noch nicht genannt werden konnten. „... es gehörte schon einiger Mut dazu,“ schrieb Siegelberg, „ein Lied zu komponieren, das irgendwie ... auf das schwere Leben im Lager hinwies und geradezu überschwänglich von der Freiheit schwärmte.“ Hauptperson in dem Roman ist der Rechtsanwalt und Schriftsteller Paul, der unschwer als Siegelberg zu erkennen ist, zumal sich die Handlung von der Festnahme im März 1938 bis zur Ausreise nach Shanghai mit Siegelbergs Schicksal deckt: das ungewisse Warten mit vielen Mithäftlingen im Wiener Gefängnis, die Fahrt zum Westbahnhof, Transport und Einlieferung in das KZ Dachau mit zahlreichen Übergriffen, Demütigungen und Grausamkeiten. Auch die von anderen Deportierten überlieferte ErschieSung eines Haftlings im Zug nach Dachau wird von Siegelberg berichtet (vermutlich der in der Transportliste aufscheinende und in Dachau nicht angekommene Johann Stern). Die subjektive Einschätzung der Häftlingsbehandlung am Transport differiert allerdings je nach dem Erlebten: Während Siegelberg (Paul) meinte, dass die „österreichische Gemütlichkeit“ am Westbahnhof endete, um von einer „geradezu bewunderungswürdigen preußischen Genauigkeit, Intensität und Geschwindigkeit“ abgelöst zu werden, sah der im April 1938 aus München eingelieferte Konsulatsbeamte Erich Bielka, nachmaliger Außenminister, brutale Bayern am Werk. Die Schlechterstellung der jüdischen Häftlinge gegenüber ihren nichtjüdischen Kameraden, insbesondere aber die dramatische Verschlechterung der Situation der Häftlinge in Buchenwald nach der massenhaften Einlieferung von Juden im Zuge des Novemberpogroms 1938, wird im Roman eindrucksvoll beschrieben. Der Autor beschränkt sich keineswegs nur auf die Wiedergabe des faktischen Geschehens, sondern gibt auch die innere Sicht seines Protagonisten, die schwankende Gefühlslage zwischen Angst und Resignation und der Hoffnung auf Überleben und Freilassung wieder. Hervorzuheben ist die Paralleldarstellung von Pauls Schicksal und dem Erleben seiner Ehefrau Maria (real Amalie), mit der eine streng zensurierte und zeitweise unterbrochene Korrespondenz unterhalten werden konnte. Maria hatte großen Anteil an Pauls nicht einfach zu bewerkstelligender, durch bürokratische und materielle Hürden erschwerte Freilassung. Eine solche war bis zum Kriegsausbruch 1939 für jüdische Häftlinge möglich, sofern sie ihren gesamten Besitz zurückließen, eine Ausreisegenehmigung der zuständigen Behörden („Zentralstelle für jüdische MAI2023 81