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Auswanderung‘), eine Einreisegenehmigung (Visum, Afhıdavit) für ein Immigrationsland und eine entsprechende Fahrkarte vorlegen konnten. Um diese zum Überleben notwendigen Schritte kümmerte sich Maria in Wien; vom KZ aus wäre das nicht möglich gewesen. Eine solche Paralleldarstellung ist im Übrigen auch in dem erwähnten Buch von Maximilian Reich erfolgt. Tomas Sommadossi nimmt an, dass Siegelbergs Ehefrau Amalie nicht nur die Informationen zur Situation in Wien geliefert hat, sondern auch aktiv an der Textgestaltung beteiligt war. In seinem Fazit stellt der Herausgeber fest, dass sich die beiden im Buch zusammengefassten antifaschistischen Zeitromane in ihrer politischen Aussage ergänzen. Während der „Schutzhaftjude“ die Vorphase des Holocaust tatsachengetreu abbildet, so weist „Brandt“ auf die latenten nationalistischen Tendenzen hin, die eine Wiederkehr des Faschismus begünstigen. Die Handlung spielt in einem ungeteilten Nachkriegsdeutschland in den 1950er Jahren; auf ihren komplizierten Verlauf kann hier nicht näher eingegangen werden. Der titelgebende Walter Brandt ist ein versehrter KZ-Überlebender, Gewerkschafter und Politiker der Arbeiterpartei, der sich für demokratische, liberale Ideale und für Aufklärungsarbeit einsetzt und nach einer erfolgreichen Wahl brutal ermordet wird. Die neuen Rechten gewinnen die Oberhand und errichten ein autoritäres System, in dem die ehemaligen Nazis wieder in Machtpositionen gelangen. Politische Verfolgung setzt ein, und Brandts Nachfolger Michael Ort muss in die Schweiz flüchten. Die zweite Hauptfigur des Romans ist der schwer traumatisierte Ludwig Monse, der als Zehnjähriger erleben musste, wie seine jüdischen Eltern im KZ ermordet wurden. Er schleicht sich in die Gruppe einer geheimen Miliz, einer Art SS-Ersatz, ein, wo der Mörder seiner Eltern und von Brandt, der homosexuelle ehemalige KZ-Kommandant Prenkow, als Ausbildner wirkt und erschießt diesen im Zuge einer Auseinandersetzung. Danach sprengt sich Monse bei einer Strafexpedition der Gruppe gegen Widerstandskämpfer in die Luft. Das in Siegelbergs Roman dargestellte Motiv der individuellen Rache und Vergeltung spielte in der Realität nach der Befreiung 1945 kaum eine Rolle. Die „Entnazifizierung“ verlief im Wesentlichen in formal-rechtsstaatlichen Bahnen, die meisten Nazis kamen glimpflich davon, und es erfolgte bald die politisch-gesellschaftliche Reintegration der Nazis, einschließlich vieler Täter. Siegelberg zeigt in seinem Roman „Brandt“ die — auch im australischen Exil erkennbare — Gefahren einer unzulänglichen „Entnazifizierung“, die Möglichkeit einer Wiederkehr von Gewaltherrschaft, Flucht und Exil auf. Er selbst hat die nach seiner KZ-Entlassung 1939 im „Schutzhaftjuden“ zum Ausdruck gebrachte Erbitterung überwunden und wurde in seinen publizistischen Arbeiten — wie seine Romanfigur Brandt — ein Verfechter demokratischer, humaner und rechtsstaatlicher Prinzipien. Seine tolerante Grundeinstellung erleichterte ihm wohl die Rückkehr nach Österreich. Dem Herausgeber Tomas Sommadossi, ein ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet, ist es ein Anliegen, mit dieser Publikation den Stellenwert der Exilliteratur in China und im pazifischen Raum (Australien) aufzuzeigen. Sein Nachwort ist ein absoluter Gewinn für die Publikation und sollte eigentlich als Einleitung vorangestellt sein, denn es trägt wesentlich zum Verständnis und zur Einordnung der Persönlichkeit, des Werks und des Schicksals von Mark Siegelberg bei. Der Herausgeber und mit ihm die Theodor Kramer Gesellschaft kénnen fiir sich in Anspruch nehmen, einen zu Unrecht in Vergessenheit geratenen antifaschistischen Schriftsteller wieder prasent werden zu lassen. Wolfgang Neugebauer Mark Siegelberg: Schutzhaftjude Nr. 13877. En Mann namens Brandt. Zwei antifaschistische Romane aus dem Exil und Nachexil. Hg. von Tomas Sommadossi. Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2022. 567 S. Euro 30,Weitere Literaturhinweise: Claudia Kuretsidis-Haider/Rudolf Leo: „dachaureif”. Der Osterreichertransport aus Wien in das KZ Dachau am 1. April 1938. Biografische Skizzen der Opfer. Wien 2019. Wolfgang Neugebauer/Peter Schwarz: Stacheldraht, mit Tod geladen ... Der erste Österreichertransport in das KZ Dachau 1938. Wien 2008. Maximilian und Emilie Reich: Zweier Zeugen Mund. Verschollene Manuskripte aus 1938. Wien — Dachau — Buchenwald. Wien 2007. Wilfried Seywald: Journalisten im Shanghaier Exil 1939-1949. Salzburg 1987. Mark Siegelberg: Das zweite Gesicht / The Face of Pearl Harbor. English and German Parallel Text. Hg. von Tomas Sommadossi. München 2017. Mark Siegelberg/Hans Schubert: Die Masken fallen - Fremde Erde. Zwei Dramen aus der Emigration nach Shanghai. Hg. von Michael Philipp und Wilfried Seywald. Hamburg: Hamburger Arbeitsstelle fiir deutsche Exilliteratur 1996. (Schriftenreihe des P. Walter Jacob-Archivs. 5) In Zeiten, in denen Ubergriffigkeit und sexueller Missbrauch in vielen gesellschaftlichen Bereichen, nicht nur in den Kirchen und in Zöglingsheimen, sondern auch in Sport, Film, Ballett, Theater, Musikhochschulen und anderen Institutionen im Zeichen von #Me Too aufgedeckt, öffentlich problematisiert und strafrechtlich prozessiert werden, kommt ein Buch wie das von Ulrike Heider - „Die grausame Lust. Sadomasochismus als Ideologie“ — gelegen. Denn es stellt sich die Frage, nicht nur wie das Salz ins Meer, sondern wie die Gewalt in die intimen zwischenmenschlichen Beziehungen kommt und wie sie, speziell bei der sogenannten Intelligenz, ideologisch rationalisiert wurde. Karlheinz Deschner, der bekannte Kriminalhistoriker des Christentums, schrieb 1974 unter dem Titel „Das Kreuz mit 82 _ ZWISCHENWELT der Kirche“ einen aufklärerischen Bestseller über die christliche Sexualgeschichte im Spannungsfeld von Askeseforderung und gesellschaftlicher Lebensrealität, doch bliebe das Weiterwirken der nationalsozialistischen rassistischen Biopolitik zusätzlich mitzubedenken, in der sich eine seltsame Dialektik zeigte: Hitler rühmte sich einmal, die prüden Moralvorstellungen der herkömmlichen Erziehung für die deutschen Jungen und Mädels aus dem Weg geräumt und der „Natur“ freie Bahn verschafft zu haben. Sie mochten sich vorerst subjektiv von den alten Zwängen befreit gefühlt haben. Doch letztlich für welche schrecklichen Zwecke? In einem Flugblatt der Weißen Rose wurde übrigens unter anderem die sexuelle Übergriffigkeit von Nazibonzen auf die studierende Jugend beklagt So könnte man heute konstatieren, dass es noch immer und abermals wieder ein „Kreuz“ mit einer unfreien und unfrei machenden Sexualität und Sexualideologie gibt, diesmal nicht mehr so sehr direkt unter christlichem, moraltheologischem Vorzeichen, aber doch immer noch im Schatten einer äußerlich abgestrittenen Mystifikation des Sexuellen zur Dämonologie christlicher Provenienz. Der Sexualdiskurs ist zum einen medial und kulturwissenschaftlich modisch, aufgrund des „Kreuzes“, also des Krampfes brisant, doch ein Ende des Tunnels ist nicht absehbar, sodass Potentiale, die für andere, noch wichtigere politische Aufgaben dringend benötigt wären, in innerer Selbstquälerei oder Zerstreitung der Partner*innen, mehr oder