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antiaufklärerischen, konservativen und inhumanen Grundhaltung abgelehnt. Umso mehr von ihnen wollten seine Bücher aus sexualmoralischen Gründen ins Feuer werfen. (S. 35) Immer dann, wenn der Konservatismus unaufhaltsam scheint, treibe das Phantasma vom tendenziell gewalttätigen oder gar mörderischen Sexualinstinkt seine Blüten, suggeriere, dass der Voluntarismus der Aggression in der Natur des Mannes stecke, zudem der Geschlechterkampf unausweichlich sei, woraus sich aus der angeblich bösen Konstitution des Menschen - hier verschränken sich Anthropologie, Soziobiologie, Naziideologie und christliches Erbsündendogma — auch notwendig immer wieder Kriege ergäben: Man fragt sich dann bloß, warum es zwischendurch bei uns in Mitteleuropa 78 Jahre keinen Krieg mehr gegeben hat und uns dieser nicht abgeht. Jenen zugrundeliegenden Sozialdarwinismus und die Kulturation überspringenden scheinevidenten Pseudo-Biologismus zeigt Heider auf. Die „stählerne Romantik“ Ernst Jüngers verklärte das Fronterlebnis im Ersten Weltkrieg: Dort im Krieg „entschädigte sich der wahre Mensch in rauschender Orgie für alles Versäumte. Da wurden seine Triebe, zu lange schon durch die Gesellschaft und ihre Gesetze gedämmt, wieder das Einzige und Heilige und die letzte Vernunft“, heißt es in seinem 1922 erschienenen Essay „Der Kampf als inneres Erlebnis“, der interessanterweise bei aller Nähe zum Kitsch auch unter Linksintellektuellen Anhänger fand. Heider ist nicht entgangen, dass „der Eros — ob als romantische Liebe oder Sexualität - in Jüngers Werk merkwürdig abwesend ist“ (S. 71), indem es Szenen gibt, „die auf Angst vor der weiblichen Sexualität schließen lassen.“ (S. 74) Von de Sade sagte Jünger, dieser sei „der Erdwolf, der heulend durch die Kloaken jagt, mit feuchtem, klebrigem Fell und dem unersättlichen Fleischhunger, der endlich Blut säuft und die Abfälle des Lebens frisst“ (zit. auf S. 73). Auch die Surrealisten konnten sich für de Sade begeistern. Im zweiten Manifest des Surrealismus wird das „Dogma der absoluten Revolte“ verkündet: „Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings so viel wie möglich in die Menge zu schießen.“ (zit. auf S. 51) Das mag mit dem Nihilismus liebäugelnde Jugendliche beeindrucken, aber die realen Amokläufer setzen meist unwissentlich diese Seite des Surrealismus auf banal-böse und mörderischste Weise in die Tat um. Eine „neue Ordnung der Dinge“ wollte Breton begründen. Warum [...] die Umdeutung de Sades zum utopischen Rebellen? War es der Konservatismus in Sades Begriff von Mensch und Sexualität, 84 _ ZWISCHENWELT sein überkompensierter Katholizismus, der den surrealistischen Künstlern als Zeugen von zwei Weltkriegen näher war [ ]? Waren es de Sades Elitebewusstsein und sein asozialer Individualismus, die sie anzogen? (S. 53) Ulrike Heider findet sowohl in den Biographien de Sades als auch seiner Fans jede Menge Krypto-Katholisches. Bei Georges Bataille, den sie schlichtweg als Reaktionar brandmarkt, ist die rigide Sexualmoral, sind Verbote geradezu der Stachel, der zur Übertretung und „Transgression“ reizt und — mit Batailles Wort — „behext“. Sexualtabus sollen nach seiner Ansicht aufrechterhalten bleiben, das Schuldgefühl sei unerlässlich. „Sexuelle Freiheit wäre nicht erstrebenswert, denn sie würde der Lust in ihrer menschlichen Form ein Ende setzen.“ (S. 57) Bataille vergleicht die menschliche Sexualpraxis mit einem blutigen Menschenopfer: Die fleischliche Vereinigung ist im Altertum als Analogon zur Opferung aufgefasst worden, bei der der männliche Opferer zu einer Art Tötung, das heit zur Entblößung und Penetration des weiblichen Opfers schritt. Bei der gewöhnlichen Erotik besteht das Spiel des männlichen Partners darin, an der Aufgelöstheit des Opfers, die er bewirkt hat, teilzuhaben. Der Sadismus zeigt bloß die äußerste Richtung eines Vorgehens an, das wesentlich ist. (zit. auf S. 57) Die Sexualorgane empfand Bataille als hässlich, hässlich sei auch das, was man mit ihnen tut. Krypto-Katholisches in der Vita Batailles: mit siebzehn sei er jede Woche zur Beichte gegangen und wollte Priester oder Mönch werden. Später, während seiner Zeit als Bibliothekar in der Bibliothéque Nationale, zog es ihn in die Halbwelt der finsteren Kneipen, Spielhöllen und Bordelle, gab er sich der Promiskuität hin: „Was in mir von der brennenden Religiosität noch lebendig war, verband sich der Ekstase eines Lebens in der Wollust die ausschweifenden Vergnügungen verlockten mich.“ (zit. auf S. 59) Fir Bataille war die Revolution ein orgiastisches Theater der Grausamkeit: Ohne tiefes Einverständnis mit Kräften der Natur wie dem Tod in seiner gewaltsamen Form; dem Blutvergießen; den plötzlichen Katastrophen einschließlich der furchtbaren Schmerzensschreie, die ihnen folgen ... ohne die sadistische Einsicht in eine ganz offensichtlich dröhnende und wilde Natur kann es keine Revolutionäre geben, sondern nur eine ekelhafte utopische Sentimentalität. (zit. auf S. 61) Er sprach sich fiir die Beibehaltung der Todesstrafe aus und spielte sich mit dem Gedanken, Mérder wieder 6ffentlich hinrichten zu lassen. Selbst sein eigenes Menschenopfer bot er an und wollte sich von seinen geheimbiindlerischen Acéphale-Genossen umbringen lassen, was sie ihm aber verweigerten. Seine Gefahrtin Colette Peignot, genannt Laure, rühmte sich ihrer Hartherzigkeit; ihrer bigotten Mutter, die ihr vorwarf, ein Herz aus Stein zu haben, konterte sie, sie habe ein noch viel kälteres Herz aus Marmor. Damit ist nur ein kleiner Bruchteil der reichhaltigen ideen- und kulturgeschichtlichen Zusammenhänge angedeutet, die die Autorin erschließt; sie reichen vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Wie Micha Brumlik in seiner Rezension des Buches in der Frankfurter Rundschau vom 23.1.2023 feststellt, geht Heider anders als Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ „freilich dem gesamten intellektuellen Erbe de Sades nach“. Sie behandelt auch schwule Intellektuelle, die sich Sadomasochismus und sexueller Grausamkeit widmeten: Roland Barthes, Jean Genet, Pier Paolo Pasolini, Michel Foucault, Hubert Fichte. Im zweiten Teil des Buches setzt sie sich mit Ratgeber- und Szeneliteratur von homo- wie heterosexuellen Sadomasochistinnen und Sadomasochisten ab den siebziger Jahren auseinander, sieht dabei die Gefahr einer Bagatellisierung von Sklaverei, Menschenhandel, Naziverbrechen. Heutige BDSM-Anhänger*innen betonen allerdings den Grundsatz „safe, sane und consensual“. Immer sieht Heider all diese Praktiken und überhaupt die Sexualität unter den unfreien Bedingungen des Marktes kritisch, die leicht zu einer kompensatorischen Ventilfunktion, Dampf abzulassen, verkommen kann. Soziale Ungerechtigkeit, Konkurrenz und Leistungsdruck in allen Lebensbereichen, Kriegsvorbereitungen und Kriegstreiberei fordern ihren Preis bis ins Privateste hinein. Für die unzeitgemäßen Anhänger des „Make love, not war“ dagegen harrt das Glücksversprechen einer friedlichen und harmonischen Lust — frei von Konkurrenz, Hierarchie, Macht und Gewalt — noch immer seiner Erfüllung in einer ebensolchen utopischen Welt. (S. 233) Damit beschließt sie ihr lesenswertes Buch, das übrigens 749 Anmerkungen in durchlaufender Zählung enthält, unter denen ich jedoch Leopold von Sacher-Masoch, von dem der zweite Namensbestandteil von „Sadomasochismus“ genommen ist, nicht entdeckte: wie überhaupt das Buch auf den Sadismus fokussiert ist. Zu welcher Conclusio komme ich als Rezensent? Sicher soll man de Sade & Co., um auf einen bekannten Essay von Simone de Beauvoir anzuspielen, nicht verbrennen. Jedoch extrem überspannte Ideen — Ältere erinnern sich vielleicht noch an das Schlagwort und Streitthema vom „überanstrengten Sexus“ im heutigen Kapitalismus — umsetzen zu wollen, gegen deutliche innere Vorbehalte und skeptischen Einspruch der Vernunft, hat etwas den Menschen, sich