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Gewaltherrschaft Verfolgte einsetzt, mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Oksana Stavrou schreibt in ihrem Aufsatz, dass die PreistragerInnen zwar Unglaubliches fiir die Verwirklichung von Menschenrechten geleistet haben, jedoch das Blutvergießen nicht verhindern konnten. Es erscheint mir wichtig, dass Menschenrechtsverstöße in jedem Land als Verstoß gegen demokratische Grundrechte aufgezeigt werden, wobei im Einzelfall die Verbindung zu den regionalen gesellschaftlichen Umständen hergestellt werden muss. So hat Irina Scherbakova, Mitbegründerin der Menschenrechtsorganisation Memorial, seit den 70er Jahren des 20.Jahrhunderts Lebensgeschichten Überlebender der stalinistischen Straflager aufgezeichnet und in einem Archiv gesammelt. Diese Organisation wurde Ende 2021 auf Putins Anweisung aufgelöst, Scherbakova und andere MitarbeiterInnen von Memorial wurden vor Gericht gestellt und mussten schließlich das Land verlassen, nachdem Prozesse und Durchsuchungen die Arbeit der Organisation seit Jahren behindert hatten. Weiters untersucht Stavrou die aktuelle Parteienlandschaft der Ukraine für Außenstehende sehr spannend und interessant, wobei sich die Kriterien der Identität einzelner Parteien stark von jenen, durch die sich Parteien in anderen europäischen Staaten definieren, unterscheiden. Nähe und Distanz zu Russland, Souveränität, Bewusstsein einer eigenen Nation, Haltung zu den einzelnen Ethnien spielen dabei eine wichtige Rolle. Schließlich setzt sich die Autorin mit Problemen der gezielten Russifizierung der Ukraine und ihren Folgen auseinander. Hier wird in komprimierter Form gezeigt, dass die Unterdrückung der ukrainischen Sprache und Kultur bereits vor 300 Jahren begonnen har. Stavrou erläutert beispielsweise schr genau, was in der Ukraine in den 1930er Jahren unter Stalin passierte, sie erinnert, dass Millionen von UkrainerInnen während des Holodomors gestorben sind. Erklärungen zu späteren Russifizierungsversuchen, zu Diffamierung und Verdrängung der ukrainischen Sprache in der sowjetischen Zeit erleichtern uns anderen EuropäerInnen, die Hintergründe des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine besser zu verstehen. Der langwierige Kampf der Ukraine um die Anerkennung der Unabhängigkeit wird übrigens auch in dem Roman „Blauwal der Erinnerung“ von Tanja Maljartschuk ausführlich beschrieben. Eva Schmidt, 6.3.2023 Anm. d. Red.: Was verstehen wir unter Kultur und Kulturschaffende? In Putins Regime sind seit dessen großflächigem Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine Sport und Kultur Teile des Propagandaapparats. Der Großteil der Kulturschaffenden, die ihre Unabhängigkeit bewahren wollten, sind voller Entsetzen ins Ausland geflohen. Andere sind geblieben. Manche Mutige protestieren und riskieren Verhaftung und Gulag - weil sie sich gegen den Angriffskrieg aussprechen. Andere schweigen, wollen im Ausland gehört werden, sich aber nicht gegen Putin äußern. Wie steht es um die individuelle Verantwortung in einem Terror-Regime? Der Moskauer Soziologe Greg Judin sagte auf die Frage der Journalistin Katerina Gordejewa in den Wochen nach dem Überfall auf die Ukraine, ob er Russland verlassen werde: Nein, warum sollte er gehen? Es ist sein Land! Aber: Er werde Russland verlassen, sobald er Gefahr laufe, in irgendeiner Weise zum Werkzeug des Krieges zu werden. Im Frühjahr verließ er Russland. Und spricht sich weiterhin gegen Putin und den Angriffskrieg aus. Lieber Konstantin, Ich sitze gerade über dem sehr interessanten Novemberheft und lese Dein Vorwort, das mich sehr nachdenklich stimmt, und das in mehrerlei Hinsicht. Im Besonderen springt dabei der Themenbereich Karl Lueger ins Auge, der doch sehr diskurswürdig wäre: Es stellt sich mir die Frage, ob es tatsächlich die ultimative Lösung darstellen würde, sein Wiener Denkmal, wie Du schreibst, „einfach abzutragen“ Diesen Bürgermeister aus dem Stadtbild zu tilgen, der für die Infrastruktur der Stadt mehr geleistet hat als die meisten seiner Vorgänger und Nachfolger, halte ich für keine gute Lösung. Dieser Radikalschnitt spräche sich doch entschieden gegen eine notwendige Auseinandersetzung mit diesem komplexen Thema aus: Für die eine Seite der Geschichte steht repräsentativ dieses Denkmal, das den bedeutenden Stadterneuerer ehrt. Was wäre nun sinnvoller und ehrlicher als — für die andere Seite - dieses Harmonie und Ausgewogenheit suggerierende Denkmal mit einem Gegendenkmal zu konfrontieren, das den widerlichen antisemitischen Hetzer thematisiert? Ein Gegendenkmal, das die äußerst fragwürdige Harmonie, die der Gestalter Josef Müllner bietet, ganz gezielt stört? Ein Gegendenkmal, das obendrein auch auf Müllners Ideologie Bezug nimmt, die ja ebenfalls nicht „ganz unproblematisch“ war? Mit welchen Elementen man dieses Gegendenkmal auflädt, müsste gut überlegt sein. So könnte dieses zu schaffende Konstrukt eine Kombination aus Figuren, Sätzen und Symbolen, verbunden mit aufgeladener ästhetischer Formgebung darstellen, reagierend auf Müllners Vielzahl von Figuren in Relief- sowie Ganzkörper-Formen. Es sollte eine schreiende Kritik an Luegers Hetztiraden werden, aber auch an manchen Äußerungen seines Stabes — so etwa jener von Ernest Schneider in den Raum gestellten „Abschussprämie“ für Juden. Der Vorschlag von Oskar Deutsch, das Denkmal wegzuschaffen und den Platz umzubenennen, widerspricht eklatant der beständigen und legitimen Forderung, die gerade aus diesen Kreisen immer als Mahnung zu uns gedrungen ist, die Erinnerung stets wachzuhalten. (Ich kann hier nicht umhin, auch diesbezüglich wieder meinen lieben Freund Rudi Gelbard ins Spiel zu bringen, der eben diese Erinnerungskultur immer eingefordert hat) Und warum soll gerade die Erinnerung an einen Politiker ausradiert werden, der jenem „jungen Mann aus dem Innviertel“ Vorbild war, wie in dessen Buch zu lesen ist, und der uns doch gerade in der heutigen Zeit so derart wichtigen Diskussionsstoff über Politik und Propaganda in die Hand gibt. Nein — nicht wegschaffen: Gegendenkmal entwerfen, konfrontieren, diskutieren — das ist mein Zugang zu der Thematik Karl Lueger. Markus Vorzellner, 27.3.2023 KURZBIOGRAFIEN Shirley Campbell Barr, wurde in Costa Rica geboren. Sie ist eine Schwarze Schriftstellerin und Poetin sowie Anthropologin, Forscherin und Aktivistin, die sich für die Rechte, gesellschaftliche Teilhabe und Sichtbarkeit von Schwarzen Communitys und insbesondere von Schwarzen Frauen in Lateinamerika einsetzt. Maga Ursula Berner, MA, Historikerin und Landtagsabgeordnete in Wien. Cécile Cordon, 1939— 2023, Politikerin, Schauspielerin, Autorin. Im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft gab sie 2002 gemeinsam mit Helmut Kusdat den Band: An der Zeiten Ränder. Czernowitz und die Bukowina. Geschichte. Literatur. Verfolgung. Exil. heraus. Paulus Ebner, Historiker und Leiter des Archivs der TU Wien. Karl-Markus Gauß, geboren 1954, lebt in Salzburg. Ende 2022 hat er nach 32 Jahren die Herausgeberschaft der Zeitschrift Literatur und Kritik zurückgelegt. Für sein Buch „Die Unaufhörliche Wanderung“ erhielt er 2022 den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung. Zuletzt erschien sein Journal „Die Jahreszeiten der Ewigkeit“ im Zsolnay-Verlag. MAI 2023 89