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85 Buchzugänge 86 Briefe Sonja Pleßl 87 Chronik eines Umbruchs. Eiserner Vorhang. Verein für weltweite Nothilfe Konstantin Kaiser 98 “Großer vaterländischer Krieg“ und Waffenstillstandswünscher ZWISCHENWELT LITERATUR / WIDERSTAND / EXIL schaft Engerthstr. 204/40 1020 Wien ISSN 1606-4321 Nicht fürs Süße, nur fürs Scharfe 7 und fürs Bittre bin ich da; / schlag, ihr Leute, nicht die Harfe, 7 spiel die Ziehharmonika, Theodor Kramer Cover von ZW Nr. 4/2017 mit Motiv von Olivia Kaiser Bitte unterstützen Sie Zwischenwelt durch Ihr Abonnement oder Ihre Spende! Zwischenwelt ist die verlässliche Adresse für Nachrichten aus dem Exil, für Wiederentdeckung des Mißachteten, für Bericht über verjährt geglaubtes Unrecht. Geben sie durch Ihr Interesse Zwischenwelt die Chance, weiterzuarbeiten! 4 ZWISCHENWELT Konstantin Kaiser Nationalismus: Versuch einer Annäherung Es ist nicht lange her, daß mir ein alter Bekannter erklärte, die ganze Entwicklung seit dem 16. Jahrhundert, die zur Herausbildung von Nationalstaaten geführt habe, sei eine Fehlentwickung gewesen. Sie hätte nicht stattfinden sollen. Mir klang es wie der Vorschlag, ein Stück aus dem Stamm eines Baumes herauszuschneiden, wenn dieser allzu hoch gewachsen sei. Auch wenn man Geschichtsbilder vielfach als Konstruktionen dekonstruieren kann, ist Geschichte doch auch dann noch ein Kontinuum, wenn sie auf katastrophale Weise unterbrochen und gebrochen erscheint. Selbst der Versuch, die Shoah als „einzigartig“ aus der Geschichte herauszuschneiden, muß daran scheitern, daß gerade die „Singularität“ vom Fortgang der Geschichte abhängig bleibt. (Vgl.meinen Aufsatz „Der Völkermord an den Armeniern und die Singularitat der Shoah“, In: ZW Nr. 2-3/2006, 16f.) Geschichte ist kontingent im übelsten und besten Sinn und lässt sich weder unterbrechen noch einfach neu anfangen. „Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber unter vorgefundenen Bedingungen.“ (Giambattista Vico) „Nationalismus“ hat in Österreich jedenfalls einen schlechten Ruf, und man kann ihm getrost nachsagen, Ursache manchen Übels zu sein. Als Robert Menasse kürzlich behauptete, Nationalismus führe „in letzter Konsequenz zu Auschwitz“, wurde meines Wissens kaum Kritik laut, obwohl man doch Geschichtsrevisionismus beklagen hätte können. Bislang war man aufgrund hstorischer Fakten nämlich der Ansicht, daß die Machteinsetzung Adolf Hitlers und das von den Nationalsozialisten errichtete Terrorregime „in letzter Konsequenz“ zu Auschwitz geführt habe. Daß sich die Nationalsozialisten gut darauf verstanden, nationalistische Einstellungen für ihre Sache zu mobilisieren, mag unbestritten bleiben, doch zwischen Nationalismus und antisemitischem Rassewahn ist zu unterscheiden. Der „Nationalismus“, wie ihn Menasse perhorresziert, ist auch ein wenig gespenstisch, man müßte ihn nach Ort, Zeit und Zielsetzung konkretisieren. Z.B. habe ich mir einmal erlaubt die Frage aufzuwerfen, ob nicht jene WiderstandskämpferInnen in Österreich und im Exil, die für eine Wiederherstellung eines freien unabhängigen Österreich eintraten, vielleicht als antifaschistische „Nationalisten“, aufjeden Fall aber als „Patrioten“ betrachtet werden könnten, wehrten sie sich doch gegen ein endgültiges Verschwinden Österreichs von der Landkarte. In Österreich hat die Verachtung des Nationalen, besonders wenn es um die Rechte einer Nationalität geht, eine weit ins 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition. Schon die Josefinische Aufklärung in ihrer Verwaltungsrationalität verfolgte nach dem Ende der Türkenkriege in der Sprach- und Religionspolitik eine Entnationalisierung im Habsburgerreich, und die vielen Aufstände, die die Reformen Josef des Il. begleiteten, zeugen von verzweifeltem Widerstand nicht nur gegen die Abschaffung feudaler und klerikaler Privilegien, sondern verteidigten auch eigene Sprache und ständische Selbstverwaltung in den Kronländern. Schon im 17. Jahrhundert hatte sich eine schmale nationale Intelligenz in manchen Teilen des Reiches herausgebildet. Ihr verdanken wir Grammatiken und Wörterbücher der Landessprachen, des