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Unterschied, glaube ich, überzeugend dargelegt: Noch der krasseste Chauvinismus macht sich an den konkreten Erscheinungen einer nationalen Zivilisation fest, während die nationalsozialistische Rassenlehre das letztlich Entscheidende aus der erscheinenden Welt, die uns gemeinsam ist, in die mystische Untiefe der Gemeinschaft des Blutes verlegt. Die Verwandtschaft von Faschismus und Nationalismus ist vielfach zum Volksurteil der Intelligenz geronnen; dieses Vladimir Vertlib Vorurteil erschwert es der kritischen Intelligenz in Österreich, sich zur österreichischen Nation nicht nur mitunter zu bekennen, sondern sich auch ernsthaft mit Fragen der nationalen Entwicklung auseinanderzusetzen. Unter „ernsthaft“ verstehe ich aber nicht die chauvinistischen Andachtübungen des offiziellen Österreich an Gedenk- und Nationalfeiertagen. Früher hat man in Österreich über Begriffe wie „Pflicht“ oder „historische Verantwortung“ diskutiert. Das ist lange her. In diesem Sommer entbrannte eine Debatte rund um den von der niederösterreichischen Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner etwas unbedacht verwendeten Ausdruck „normal“. Die öffentlichen Reaktionen darauf offenbarten allerdings das Unvermögen, vielleicht auch den mangelnden Willen, sich mit der gesellschaftlich wichtigen Frage von „Normalität“ und den Abweichungen davon konzeptuell auseinander zu setzen, geschweige denn eine Abgrenzung von Begriffen wie „normal“ und „normativ“ vorzunehmen oder zwischen Mythen, Symbolen, Typisierungen und kulturellen Codes zu unterscheiden. Inwieweit basiert die sogenannte „Normalität“ auf ethischen Prinzipen und Grundhaltungen, und wer legt diese fest? Sind Veränderungen des Verständnisses von Normalität ebenfalls „normal“? Mit Hinweisen auf „präfaschistoid“ (was ist eigentlich der Unterschied zu „präfaschistisch“?) oder auf „unsere Leut”“ im Gegensatz zu Fremden streift man bestenfalls sanft am Ihema vorbei und wird dabei nicht einmal der hausbackenen Mikl-Leitner’schen „Normalität“ gerecht. Früher gab es in Österreich zumindest den typischen „Schmäh“, der in Zeiten des Absolutismus und der Gegenreformation entstanden war und einen verschlüsselten Kommentar anbot, wenn Direktheit Gefahr bedeutete. Jahrhundertelang waren hierzulande viele Menschen antiintellektuell, brutal, oftmals menschenverachtend, aber zumindest hatten einige von ihnen Esprit. Doch der Humor scheint modernen Menschen in Zeiten permanenter Krisen abhanden zu kommen, und der Esprit verkommt zur eitlen Pose. Das Traurigste an der „Normalitätsdebatte“ war von Anfang an die ironiebefreite Gewichtigkeit, mit der die meisten Akteurinnen und Akteure die eigene Oberflächlichkeit ernst nahmen. Während der sommerlochverdächtigen Normalitätsdebatte musste ich oftan einen Bekannten, den heute in Wien lebenden ukrainischen Philosophen Serhij Forkosh denken und an ein Interview, das ich mit ihm geführt hatte. Sich mit der Biographie und den Gedanken dieses Intellektuellen auseinanderzusetzen, kann inspirierend sein. Serhij ist in vielerlei Hinsicht konventionell, aber ist er auch normal? Der 39jährige führt eine konventionelle Ehe, hat Frau und Kind, kleidet sich unauffällig, gendert nicht und bemüßigt sich einer allgemein verständlichen Diktion — wiewohl stets aufeinem etwas höheren Niveau als der Durchschnitt. Aber er kommt aus einem Land, das sich gerade im Krieg befindet, aus einer Region des Landes, die dort als untypischer Rand, als hinterwäldlerische Provinz angesehen wird, und er spricht mit mir vier Stunden lang 6 _ZWISCHENWELT in einem druckreifen, derart differenzierten Russisch, wie ich es von einem Zeitgenossen noch nie gehört hatte. Dabei ist Russisch gar nicht seine Muttersprache, genauso wenig wie übrigens das Ukrainische ... Bekanntheit erlangte der Professor für Philosophie an der Universität von Kyiv, als er mit einigen seiner Studenten den Unterricht im Fernstudium über Skype und andere Online-Formate weiterführte. Dies wäre nicht so außergewöhnlich, wenn die Studenten sich nicht gerade an der Front befänden. Um mit ihrem Lehrer philosophische Fragen zu erörtern, müssen sie mit ihren Laptops meist die Schützengräben verlassen und Orte nahe der Front aufsuchen, an denen sie eine Internetverbindung aufbauen können. Danach reden sie über existenzielle Fragen — über Leben und Tod, Angst, Hoffnung und Verzweiflung. Dort wo es so leicht ist und nicht unerwartet geschicht, dass man das Leben anderer beendet oder das eigene Leben verliert, mache es Sinn, über den Wert des Lebens nachzudenken, meint Serhij. Wenn ich daran denke, was die Menschen in der Ukraine heute, gestern und morgen durchmachen müssen, wenn ich den abnormen Wahnsinn dort und in vielen anderen Regionen der Welt betrachte, frage ich mich, wie es heute jemand irgendwo zwischen Amstetten und Straßhof wagen kann, das Wort „Normalität“ überhaupt in den Mund zu nehmen. War es nicht immer, jederzeit und überall die breite, schweigende Mehrheit der „Normaldenkenden“, die es erst zugelassen hat, dass die Welt so wird, wie sie ist? Serhij selbst war nicht an der Front. Dem Tod hat er nicht im Krieg, sondern vor sechs Jahren ins Auge geschaut, als er schwer an Krebs erkrankt war und die Ärzte ihn schon aufgegeben hatten. Ob Philosophic hilft, die Tragik und den Aberwitz des Lebens zu verstehen? Gewiss. Doch sollte man Philosophie nicht mit einer Therapie verwechseln. Philosophie ist weder eine Spielart der Psychologie noch ein Trost- oder Besänftigungsmittel. „Wenn du schwach bist“, erklärt Serhij, „wird die Philosophie dich töten. In jedem Fall wirst du noch schwächer werden, wenn du dich tatsächlich mit ihr beschäftigst. Wenn du hingegen stark bist, wird sie dich stärker machen.“ Ein „normaler“ Zugang? Wahrscheinlich schon, wenn man Serhijs Ansichten übernommen hat, dass philosophisches Denken nichts mit formaler Bildung, mit dem Wissen über oder der Wiedergabe von Philosophiegeschichte, mit Konzepten früherer Zeiten oder den Gedanken der großen Denker der Vergangenheit zu tun hat, sondern ein intensives, persönliches Nachdenken über Grundsatzfragen bedeutet. Nachdenken muss zu einer erhellenden