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ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was unser Leben so wertvoll und so faszinierend macht. Einen Gedanken konsequent weiterzuführen ist stets eine radikale Herausforderung. Für Johanna Mikl-Leitner hingegen ist „radikal“ das Gegenteil von „normal“. Radikal aber bedeutet in seiner ursprünglichen Bedeutung, den Dingen auf den Grund, an die Wurzel, zu gehen. Das Gegenteil dazu ist nicht etwa normal, sondern halbherzig, lauwarm und glatt. Serhij Forkosh ist ein radikaler Mensch. Mit ihm zu reden, zu diskutieren, ihm zuzuhören, bedeutet, sich dem radikalen Denken anzunähern, heißt zu lernen, konsequent, stringent und selbstkritisch zu sein. Radikalität ist eine Auszeichnung, kein Makel, und man kann gleichermaßen radikal Positionen der Mitte vertreten wie man radikal in Frage stellen kann, ob es Maxim Trudoljubow Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Onlinemediums deköder. Der Beitrag erschien am 24. März 2022 im russischen Exilmedium Meduza' und auf Deutsch am 30.3.2022 auf deköder” in der Übersetzung von Ruth Altenhofer und Jennie Seitz. Maxim Trudoljubow, geb. 1970, ist ein russischer Journalist und Wissenschaftler. Zu den Schwerpunkten seiner Forschung gehören Religion, Architektur und politische Prozesse im gegenwärtigen Russland. Er publiziert regelmäßig Artikel in unabhängigen Medien und ist Mitglied der US-amerikanischen Forschungseinrichtung Kennan Institute. Trudoliubow ist Redakteur des Exilmediums Meduza. Das auf Russisch und Englisch berichtende Onlinemedium war von der ehemaligen Chefredakteurin von Lenta.ru, Galina Timtschenko, im Oktober 2014 als Exilmedium gegründet worden, nachdem wahrheitsgetreue Berichterstattung über den russischen Krieg gegen die Ukraine, der im Februar 2014 mit der Besetzung der Krim begonnen hatte, in Russland immer häufiger Repressionen durch die Geheimdienste zur Folge hatte. Meduza hat seinen Hauptsitz in Riga, Lettland und ist auf Spenden angewiesen: https:/Imeduza.iolen Deköder wurde 2015 von Martin Krohs als gemeinnütziges Projekt gegründet und bedeutete ursprünglich “Russland entschlüsseln”. Seit 2020 wird auch Belarus “entschlüsselt”. Deköder bildet die Debatten abseits der von den Diktatoren und ihren Geheimdiensten und DenunziantInnen kontrollierten und diskreditierten Medien ab. Die Idee zu dieser deutschsprachigen Internetplattform entstand angesichts der Erfahrung, dass einerseits demokratische Stimmen aus Russland und Belarus wie auch (selbst-)kritische Erkenntnisse aus der Osteuropaforschung in der westlichen Öffentlichkeit kaum Gehör fanden, ja mitunter gänzlich ignoriert wurden, und andererseits “ExpertInnen” auftraten, deren Expertise in der Kreml-Brille bestand, durch die sie die Ereignisse unserer Zeit sprachlich, “intellektuell” und politisch rahmten. Deköder wirkt dank seiner Übersetzungsarbeit und seiner Innovation als Drehtür von Wissen und Solidarität: Zu den journalistischen Beiträgen erstellen WissenschafilerInnen Gnosen, die das notwendige Hintergrundwissen bieten. Uber Verlinkungen derselben sowie mit vorherigen Artikeln und deren Verlinkungen schreibt sich deköder täglich neu fort und lässt sich wie eine Enzyklopädie lesen. Deköder finanziert sich allein mit Hilfe von Spenden: https://www. deköder.org/delspenden 8 _ ZWISCHENWELT wirklich eine schweigende Mehrheit gibt, die bestimmte Dinge als normal ansicht. Die Frage nach dem, was „normales Denken“ bedeutet, kann ohnehin nicht anders als radikal gestellt werden, denn in Wirklichkeit handelt es sich keineswegs um einen Sommerlochfüller, sondern um etwas existenziell Wichtiges, das unser aller Selbstverständnis und Zusammenleben prägt. Die niederösterreichische Landeshauptfrau war so unbedacht, den Ausdruck „radikal“ statt „extrem“ zu verwenden. Mit Letzterem hätte sie wohl stimmiger das ausgedrückt, was sie eigentlich sagen wollte. Dies aber hat wenig mit einer „Normalität“ zu tun, die alle Unebenheiten schlichtweg durch eine Asphalttrasse ersetzen möchte. Auf der Homepage der Theodor Kramer Gesellschaft unter der Ausgabe von Zwischenwelt 3/2023 können Sie den Beitrag von Maxim Trudoljubow mit allen Verweisen und der Verlinkung zum auf Meduza erschienenen Original in russischer Sprache finden. Hier, in der Print-Fassung, sind die Erläuterungen auf einige wenige beschränkt und gekürzt. Die Rache der verdrängten Geschichte Der Krieg gegen die Ukraine hat das Schlimmste freigesetzt, zu dem der russische Staat in seinem imperialen, sowjetischen und postsowjetischen Gewand fähig war. Dieser Krieg ist der zum Leben erwachte Schuldspruch, der alles in sich vereint, wovor die russische Gesellschaft nicht mehr die Augen verschließen kann. Ihre Haltung dazu haben die Kreml-Machthaber mit der Verfolgung von Memorial? demonstriert: Memorial ist eine für die Zivilgesellschaft des neuen Russlands wegweisende NGO, die in vielerlei Hinsicht Vorreiter war beim Versuch der Gesellschaft, sich von der Last der Vergangenheit zu befreien. “Memorial erzeugt mithilfe von Spekulationen über politische Repressionen ein falsches Bild von der Sowjetunion als einem terroristischen Staat”, äußerte bei den Verhandlungen einer der Staatsanwälte. “Warum sollen wir, die Nachfahren der Sieger, jetzt Reue zeigen, anstatt stolz auf unser Land zu sein, das den Faschismus besiegt hat?” Die Zeit heilt keine Wunden Wichtig an den Worten des Staatsanwalts ist nicht die typische Verdrehung der Tatsachen (Memorial sprach nicht von Reue, es plädierte für eine juristische Bewertung der Verbrechen), sondern der “Siegerkomplex”: die Vorstellung, Macher des Sieges in einem Krieg gewesen zu sein, an dem sie selbst gar nicht beteiligt waren. In den Köpfen der russischen Führer musste dieser Krieg (in dem die Russen übrigens Seite an Seite mit Ukrainern und anderen Völkern kämpften) die anderen schrecklichen Kapitel der Vergangenheit irgendwie auslöschen — und zwar so, dass der