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die längst verlorene “große Idee” — ob von einem Grofreich oder vom Kommunismus - erfolgreich ersetzt haben, ist die Lüge. Die Organisatoren des Kriegs gegen die Ukraine haben beschlossen, dass ihnen zur Legitimierung des Krieges Inszenierungen und Fiktionen reichen. Möglicherweise hat Putin seiner eigenen Propaganda geglaubt und stützt sein Vorgehen aufdie Pseudorealität, die Propagandisten in seinem Auftrag erdacht haben. Aber in Wirklichkeit ist es gar nicht so wichtig, ob er an etwas glaubt oder nicht. Jedenfalls schen wir, dass russische Beamte und Militärs ihr Vorgehen mithilfe primitiver Desinformation zu rechtfertigen versuchen, indem sie behaupten, die sterbenden Gebärenden seien Schauspielerinnen, in den Krankenhäusern würden sich Nationalisten verschanzen, und die ganze Ukraine werde von Nazis regiert. Das heutige Russland hat als politisches Gebilde nur Lügen und Methoden zu bieten, die es von den Tschekisten und von Stalin geerbt hat. Die Methoden sind immer dieselben, nur wird jetzt nicht einmal mehr versucht, sie mit einem dekorativen ideologischen Schein zu rechtfertigen. Der russische Staat ähnelt unterdessen einem Zombie - ein Körper ohne Seele, der alles auf seinem Weg zermalmt und nicht einmal versteht, wozu er das tut. “Ist die Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates nicht die zentrale Frage unserer Zeit, unserer Moral?”, schrieb Warlam Schalamow’. Ja, sie ist die zentrale Frage. Und je mehr Russen und Menschen, die sich als Russen begreifen, sich dessen bewusst werden, umso rascher wird der russische Staat für seine Verbrechen vor Gericht stehen. Ohne ein solches Gericht kann Russland weder seinen Bewohnern ein vollwertiges Zuhause bieten, noch kann es eine politische Entität werden, mit der ein vertrauensvoller Dialog möglich ist. Wenn die nationale und kulturelle Gemeinschaft mit dem Namen “Russland” wieder ein Teil der Welt werden will, dann muss die erste neue Institution, die nach dem Krieg geschaffen wird, ein Gericht über die Verbrechen des russischen Staates sein - in all ihren Ausprägungen, in der Vergangenheit und der Gegenwart. Es darf nicht mehr die Logik der Verjährung gelten, die argumentiert, dass die Verbrecher nicht mehr am Leben seien und es kaum mehr lebende Zeugen gebe, also wen wolle man jetzt anklagen. Doch finden sich da welche. Diejenigen, die entschieden haben, die Ukraine anzugreifen, wären für diese Rolle durchaus geeignet. Das Gericht muss unabhängig vom Staat sein, sonst hat der Prozess keinen Sinn. Vor 30 Jahren ist ein Verfahren gegen die KPdSU gerade deshalb gescheitert, weil die Verfassungsrichter eben noch selbst Parteimitglieder gewesen waren und das Rechtsorgan von den staatlichen Strukturen nicht sauber getrennt war. Wenn es der russischen Gesellschaft nach dem Krieg — erstmals in ihrer Geschichte - gelingt, ein wirklich unabhängiges Gericht zu installieren, dann wird sie sich und dem Rest der Welt damit beweisen, dass es in Russland überhaupt eine Gesellschaft gibt. Das wichtigste Anzeichen dafür, dass es in Russland eine Gesellschaft gibt, wird dann genau das sein: Die Existenz als handelndes Subjekt, die eine rechtliche Bewertung von Handlungen des Staates und seiner Führer ermöglicht. Wenn das gelingt, dann schaffen es die Russen vielleicht auch, andere Institutionen aufzubauen. Man wird dabei wohl mit Institutionen beginnen müssen, die die Gewalt des Staates gegen den Menschen, gegen das eigene Volk sowie andere Nationen verhindern. Man wird dafür sorgen müssen, dass nie wieder jemand an die Macht kommt, der in Kategorien wie “einiges Volk”, “gemeinsames Schicksal”, “große Geschichte” und ähnlichen grandiosen Verallgemeinerungen auch 10 ZWISCHENWELT nur denkt. Und natürlich dürfen Politiker in der Zukunft keine Möglichkeit haben, Kriege zu führen, die auf ihren Fantasien beruhen. Ihnen müssen die Hände gebunden sein. Das wird in einem Land, in dem Institutionen, Gesetze’ und sogar das Bildungssystem immer im Interesse einer zentralistischen Regierung und nicht im Interesse der Menschen gehandelt haben, extrem schwer werden. In einem Land, in dem die soziale Ordnung immer zur Rechtfertigung von Gewalt herangezogen wurde. Der Erfolg dieses schwierigen Unterfangens ist alles andere als garantiert, aber ohne ihn hat Russland keine Zukunft. Anmerkungen 1 https://meduza.io/feature/2022/03/24/my-zhivem-v-shkafu-nabitomskeletami 2 https://www.dekoder.org/de/article/krieg-ukraine-erinnerung-aufarbeitungvergangenheit 3 deköder: Manuela Putz, Gnose zu Memorial: Moskau 1988. Ein hageres Gesicht, zur Hälfte Totenkopf, prangt von einem grellroten Plakat. Dazu eine Nummer: ! 700454. Dahinter verbirgt sich ein Spendenkonto, das Plakat ruft dazu auf, ein "Denkmal für die Opfer ungesetzlicher Repressionen’ zu errichten. Initiiert wird diese für die Sowjetunion ungewöhnliche Aktion 1987-1988 von AktivistInnen, die bald unter dem klingenden Namen Memorial (lat. Andenken) firmieren sollen. In der Zeit der Perestroika werden ihre Rufe nach Aufarbeitung der politischen Repressionen, insbesondere unter Stalins Herrschaft, immer lauter. Das Schweigen soll durchbrochen werden und an die Millionen Opfer erinnert werden, die im Arbeitslagersystem Gulag inhaftiert waren, zwangsumgesiedelt wurden und dort den Kälte- oder Hungertod gestorben sind oder auf dem Höhepunkt des Massenterrors 1937-38 erschossen wurden. [...] Am 28. Dezember 2021 ordnete das Oberste Gericht die Auflösung von Memorial an. 4 “Der Geschichte sind die Augen verbunden”, deköder, 3.8.2018: Das Leben der Angehörigen von Opfern des Großen Terrors war geprägt von dem oft unbegreiflichen Verschwinden ihrer Nächsten. [...] “Wir lebten mitten in der Stadt, direkt vor dem Haus war eine Bushaltestelle. Wenn man morgens aus dem Haus ging, gab es da nur Heulen und Tränen. Die Menschen gingen zur Arbeit und weinten laut. Bei allen ist jemand geholt worden. [...] Ich glaube, sie haben damals nach "Parasiten gesucht, aber mitgenommen haben sie unschuldige Menschen. [...] Meine Mutter hat erzählt, dass sie alle Männer aus unserem Dorf geholt haben, alle bis auf den Stallknecht Jascha [...] Ohne Mann hatte es meine Mutter sehr schwer. Sie wurde zur Holzverarbeitung geschickt, meine Schwester und ich waren den ganzen Winter über alleine, da war sie elf und ich acht. Zur Schule bin ich in Soldatenstiefeln gegangen, die ich bei uns im Haus gefunden hatte. Einmal hat meine Mutter darum gebeten, dass man ihr etwas Stoff gibt, damit sie Sachen für uns nähen kann. Da hörte sie: Halt den Mund. Weißt du, wo dein Mann ist? Da kommst du sonst auch hin.’ [...] Großmutter hat nie wieder geheiratet, sie hat immer gesagt, so einen wie ihren Wanetschka würde sie nicht noch einmal finden. Aber darüber zu sprechen hatten wir Angst, das ganze Leben lang hatten wir Angst davor und wenn ich sie bat: "Oma, lass uns doch versuchen, ihn zu finden’, sagte sie: Lass ruhen. Ich fürchte mich vor diesen Zeiten.’” - Verlinkung zum Artikel von Schura Burtin “Die Geister der Vergangenheit” vom 30.5.2017 mit einem Update vom 27.12.2021 über den 1956 geborenen russischen Publizisten und Lokalhistoriker Juri Dmitrijew, der Sandarmoch, eines der größten Massengräber des Stalinistischen Terrors, entdeckte, ihm und über siebentausend Opfern Namen gab: “[N]iemand in Russland hat so viel ausgegraben wie er. Er schuf Geschichte, die es vor ihm nicht gegeben hat [...] plötzlich, nach zwanzig Jahren, finden die Bürger heraus, dass sie umgeben sind von Gräbern voller Erschießungsopfer.. [...] Es liegen dort Massen von Ukrainern, Polen, Finnen, Georgiern, Aserbaidschanern, Tataren, Wainachen begraben, sogar Schweden und Norweger. [...] ’Er hat uns beigebracht, welche Fragen man stellt. Man darf nicht nach den konkreten Ereignissen fragen, sondern zum Beispiel: Welche Stellen werden hier gemieden? Vor welchen Orten haben die Menschen Angst?’ [...] Der Heimatkundler Dmitrijew stieß auch auf die Erschießungsgruben von Sekirnaja Gora, einem Vernichtungsort des Solowezki-Lagers, “einem der