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schrecklichsten Orte der Menschheitsgeschichte. [...] Bei der Ankunft wurde der Häftling komplett entkleidet, sämtlicher persönlicher Gegenstände entledigt und in einen Kittel aus Leinsäcken gesteckt. Zu essen gab es auf Sekirnaja Gora so gut wie nichts — 300 Gramm von irgendeinem Moder, der in den umgeschlagenen Kittelsaum gekippt wurde. Den ganzen Tag mussten die Skeletten gleichen, schmutzigen, halbtoten Menschen auf speziellen Sitzstangen ausharren, die so angebracht waren, dass die Füße kaum bis zum Boden reichten, und durften sich nicht rühren. Im Winter bei grausamster Kälte, im Sommer übersät von Tausenden von Mücken. [...] Geschlafen wurde auf dem reifbedeckten Steinboden, zusammengedrängt zu sogenannten “Wärmegruppen” (die Beine des einen geschlungen um den Hals des nächsten), oder in drei Reihen übereinander gestapelt, immer abwechselnd. Jede Nacht starb jemand aus der untersten Reihe, die Aufseher zogen die Leichen heraus, und die Häftlinge, völlig von Sinnen, hinderten sie daran — aus Angst, sich auf den Steinboden legen zu müssen. [...] Länger als zwei Monate überlebte dort niemand.” Inzwischen hat das offizielle Russland seine “Wahrheit” unter die Leute gebracht: Am Anfang “vermutete” der Professor Juri Kilin an der Universität von Petrosawodsk, Sandarmoch berge auch die Überreste sowjetischer Kriegsgefangener, die von Finnen erschossen worden seien. “Eine krude Logik. Aber die Ihese hat gefruchtet. Und wenn es im ersten Stadium eine bloße Vermutung war, dann war es im dritten und vierten schon eine Feststellung, und im fünften — eine Negierung der Tatsache, dass es überhaupt irgendwelche Repressionen gegeben hat: "Ach so ist das, Memorial macht so einen Wind, dass es die eigenen Leute waren, und in Wirklichkeit waren’s die irren Deutschen!” Der Artikel von Schura Burtin geht auch auf die fingierte Anklage gegen Dmmitrijew ein. “Im November [2016] veröffentlichte Memorial die aufsehenerregenden sogenannten Henkerslisten mit den Namen von NKWD-Mitarbeitern, die unmittelbar am Großen Terror beteiligt waren.” Dmitrijew, Leiter von Memorial Karelien, erhielt anonyme Anrufe, wiewohl er an der Erstellung der Listen nicht beteiligt war. [...] Das Gutachten darüber, ob [Dmitrijews] Aufnahmen als pornographisch zu werten sind, bestellte die Ermittlungsbehörde beim Zentrum für soziokulturelle Expertisen, einer "unabhängigen gemeinnützigen Organisation’. Dabei handelt es sich um eine bekannte Firma, die in industriellen Mengen Gutachten produziert, die vom Zentrum E und dem FSB in Auftrag gegeben werden. Zu ihren jüngsten Werken gehören: Die "Verletzung religiöser Gefühle von Gläubigen’ im Torfjanka-Park und die Aufdeckung der extremistischen Natur der Zeugen Jehovas. Vier Experten sind dort Alexander Emanuely „ES wird wie nie ein Singen sein“ zugange: ein Kunsthistoriker, ein Mathe-Lehrer, ein Politikwissenschaftler und ein Englisch-Übersetzer. Diese Leute wurden bereits der Aneignung gefälschter akademischer Grade überführt, der direkten Unterschiebung (sie schrieben Dinge in die zu analysierenden Texte, die dort nicht standen) und natürlich der massenhaften Erstellung von Gutachten zu Themen, von denen sie keine Ahnung haben. Berühmtheit erlangte das Zentrum dadurch, dass es eine Bibel, die man den Zeugen Jehovas abgenommen hatte, als extremistische Literatur einstufte. Nach Meinung dieser Experten sei eine Bibel, als Buch begriffen, nicht mehr die Bibel, Dazu wird sie einzig und allein in der Kirche’.” Juri Dmitrijew, einst selbst Heimkind, hatte mit seiner zweiten Frau ein dreijähriges Mädchen als Pflegekind aufgenommen, das im Heim grobe Verwahrlosung erlebt hatte. Das Kind hängt ganz besonders an ihrem Pflegevater. Der Ermittlungsrichter hat verfügt, dass weder er noch seine Verwandten mit dem Mädchen sprechen dürfen. Im Dezember 2021 wurde Juri Dmitrijew zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt. 5 deköder: Der Begriff Gulag steht im weitesten Sinne für das sowjetische Lagersystem und damit für den Terror und den Repressionsapparat, den die kommunistische Partei der Sowjetunion zum Erhalt ihrer Macht aufbaute. GULag ist die Abkürzung für Hauptverwaltung der Erziehungs- und Arbeitslager. 6 deköder: Warlam Schalamow (1907-1982) war ein russischer Schriftsteller und Dissident. Nach seiner Verhaftung 1929 wegen konspirativer oppositioneller Tätigkeiten wurde er verurteilt zu dreijähriger Strafarbeit im Arbeitslager mit anschließender fünfjähriger Verbannung in den Norden Russlands. 1937 wurde Schalamow erneut zu Zwangsarbeit verurteilt. Nach seiner Freilassung 1951 entstehen die heimlich verfassten Erzählungen aus Kolyma, die 1971 in Deutschland und Frankreich publiziert werden. Darin verarbeitet er seine Erfahrungen in den sowjetischen Arbeitslagern. Die Erzählungen aus Kolyma gehören heute zu den wichtigsten Werken über das Leben im sowjetischen Gulag. Mehr dazu in einer Gnose auf deköder. 7 deköder: Im Rule of Law Index 2019 des World Justice Project findet sich Russland auf Rang 88 von 126 Staaten. Bei Menschenrechten ist das Land punktegleich mit Sambia und Tansania auf Platz 104, in der Kategorie “Bindung von Regierung und Staat an Recht und Gesetz” steht Russland auf Rang 112, punktegleich mit Honduras. Seit dem Amtsantritt Putins im Jahr 2000 schlägt das Pendel der Bewertung von Recht und Rechtsstaat in Russland zurück ins Negative. Mehr dazu in einer Gnose auf deköder. ... kommt mir, es wird wie nie ein Singen sein Theodor Kramer! Der Ofen von Lublin Am 24. Juli 1944 befreiten Einheiten der sowjetischen 2. Gardepanzerarmee unter General Semjon Iljitsch Bogdanow das Vernichtungslager Majdanek bei Lublin. Die SS-ler hatten das Lager hastig räumen müssen und deshalb nicht, wie befohlen, alle Beweise ihrer Verbrechen vernichten können. Im Gegensatz zu Auschwitz, welches ein halbes Jahr später befreit werden konnte, waren die Mordvorrichtungen, also die Gaskammern, noch vorhanden. Somit bot sich den Befreiern der ganze Schrecken eines Vernichtungslagers. Die sowjetische Nachrichtenagentur „Sovinformburo“ hatte zwar für die kämpfende Truppe Broschüren hergestellt, damit diese informiert wäre, wohin es sie bei ihrem raschen Vormarsch gerade verschlägt, doch von Vernichtungslagern war in diesen Informationsblättern keine Rede.? Das Entsetzen muss groß gewesen sein, zumal die einzigen Überlebenden, die man noch antraf, in Agonie liegende Angehörige der Roten Armee waren. Ca. 1000 von ihnen hatten die Deutschen zurückgelassen. Majadanck war das erste von den Alliierten befreite Vernichtungslager. Die Berichte darüber gingen in den nächsten Tagen durch die Weltpresse. So wurde der sowjetische Kriegsberichterstatter Roman Karmen im „Time Magazine“, im Artikel „Vernichtungslager“, vom 21. August 1944 zitiert: Human Bone Meal. The victims charred bones and ashes were moved into an adjoining department where an incredible process went on. These human bones were mechanically pulverized, placed inside large tin cans and shipped back to Germany for fertilizing the fields.“ ‘Theodor Kramer, der zu dieser Zeit am Guilford Technical College als Bibliothekar arbeitete, schrieb am 22. August 1944 das SEPTEMBER 2023 11