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Gedicht „Der Ofen von Lublin“. Darin verarbeitete er wohl direkt die Pressemeldungen: [...] Es wurde die Asche der Knochen sortiert, in jutene Säcke gefüllt und plombiert als Dünger geführt aus Lublin. Kramers Gedicht wurde im Gedichtband „Wien 1938 / Die grünen Kader“ veröffentlicht, der 1946 im Wiener Globus-Verlag erschien.° In dem Band waren Gedichte versammelt, die er 1938, vor seiner Flucht, und danach im Exil verfasst hatte und die Verfolgung, die Verzweiflung, die NS-Verbrechen und den Widerstand zum Thema hatten. 1979 brachte der im Schweizer Exil lebende Autor aus der DDR Bernd Jentzsch die Anthologie „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ heraus, in der er poetische Zeugnisse zu den Deportationen und zur Vernichtung durch die Nazis zusammengetragen hatte. Unter den 96 abgedruckten Gedichten findet sich auch „Der Ofen von Lublin“.° Dies ist nicht das einzige Gedicht Theodor Kramers in der Anthologie, in der man auch „Wer läutet draußen vor der Tür?“, „Die grünen Kader“ und „Requiem für einen Faschisten“ findet. ‘Theodor Kramers Versuch, mit „Ofen von Lublin“ die Shoah, die „Industrielle Vernichtung“ der Juden und Jüdinnen, der er, aber nicht seine Mutter, entkommen hatte können, in einem Gedicht zu fassen, wurde Anfang der 1980er-Jahre vom Komponisten Norbert Glanzberg vertont. Norbert Glanzberg lebte seit seiner Flucht aus Nazi-Deutschland in Paris. Er zählte zu den Großen des Chansons und der Unterhaltungsmusik. Mit Kompositionen vor 1933 für die „Comedian Harmonists“, und bald im Exil für Edith Piaf (Padam... Padam) und nach 1944 fiir Renée Lebas und Yves Montand, sowie mit Filmmusik, und erlangte zwischen 1930 und 1970 Weltruhm. Der NS-Verfolgung war er u.a. dank Edith Piaf entkommen, die ihn in der Zeit der Deportationen zeitweise bei sich versteckt hielt und ihm beim Untertauchen half.” Ende der 1970er-Jahre befand sich Norbert Glanzberg in einer Schaffenskrise und besuchte regelmäßig die Bibliothek des Pariser Goethe-Instituts, mit dessen Direktor Georg Lechner er sich angefreundet hatte. Eines Tages fiel ihm Bernd Jentzschs Anthologie in die Hände. Die Lektüre erschütterte ihn zutiefst.* Er verspürte ein heftiges inneres Verlangen, Gedichte daraus zu vertonen. Bis 1983 entstanden Lieder mit Gedichten von Hubert Gsur, Johann Kirchner, Ernst Münzinger, Wolfgang Philipp, Chris Hornbogen, Gerty Spies, Adam Kuckhoff, Werner Bergengruen sowie die Vertonung von Theodor Kramers ,,Ofen von Lublin“. Glanzberg, Meister der U-Musik und des Chansons, griff hier jedoch auf Stilmittel der modernen Klassik zurück, auch weil er nicht das breite Publikum suchte, sondern, wie er erzählte, vielleicht eher etwas über sich selbst, über das Wunder seines eigenen Überlebens erfahren wollte.” 1991 wurden Norbert Glanzbergs „Holocaust-Lieder“ in Berlin uraufgeführt. Sängerin war Gisela May. Das Unglück verhöhnt Gedichte in denen die Shoah dargestellt wird, stellen, wie Gerhard Scheit anmerkt, eine Ausnahme dar.'” Es gab und gibt unzählige antifaschistische, antinazistische LyrikerInnen. Sie besangen den Widerstand, verarbeiteten das Leid des Exils, der Verfolgung, der Haft, der Deportation. Doch wenige brachten es über sich, über 12 ZWISCHENWELT Auschwitz, über die zermahlenen Menschenknochen, die Asche zu schreiben, wie Paul Celan, Ruth Klüger oder Primo Levi. Die Vertonungen solcher Gedichte sind große Ausnahmen, ob im französischen Chanson oder im deutschsprachigen, engagierten Lied. Auch das Verfassen von eigenständiger Textmusik, bei der Liedtext und Musik im Zusammenspiel erschaffen werden, ist in diesem Kontext eine Ausnahme. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Politische und engagierte Lieder und Chansons wurden und werden zur Aufklärung und zum Protest eingesetzt. Zugleich dienen sie vor allem der Unterhaltung, versuchen ein breites Publikum zu erreichen und sind daher eine Art Zwitter zwischen E- und U-Musik, mit teilweise naher Verwandtschaft zur Volksund Popmusik. Es gab und gibt „auteur-compositeur-interpretes“ (AutorInnen-KomponistInnen-InterpretInnen), LiedermacherInnen, ProtestsängerInnen und Singer-SongwriterInnen, die in ihren Arbeiten den Massenmord der Nazis an den Juden und Jüdinnen aufgegriffen haben. Auf diese werde ich auf den nächsten Seiten eingehen. Doch kann und darf die Shoah Sujet für Unterhaltung oder Kunst sein, selbst wenn diese eine engagierte ist? Darf Kunst nach Auschwitz, wie Theodor W. Adorno meinte, überhaupt sein?'! Die Problematik liegt darin, dass die Kunst neben ihrer aufklärerischen Seite, ihren kulturellen und zivilisatorischen Aufgaben, auch Trost spendet und Unterhaltung bietet. Nur: Die Darstellung und Nacherzählung der Shoah kann nicht Unterhaltung sein! Weiters stand für Theodor W. Adorno fest, wie er in seinem Essay „Engagement“ 1962 schrieb, und dies trifft auch für die Textmusik zu: „Indem noch der Völkermord in engagierter Literatur zum Kulturbesitz wird, fällt es leichter, weiter mitzuspielen in der Kultur, die den Mord gebar.“"” Die darstellende Kunst bietet jedoch, vor allem kombiniert mit Lyrik, etwas ganz Besonderes. LiedermacherInnen können auf mehreren Ebenen zugleich ihre Botschaft, ihre Geschichte unter die Menschen bringen, auf der sprachlichen, der musikalischen und der performativen Ebene. In ihren Textmusiken versuchen sie oft, die Gefühlsregungen einer Gesellschaft nachzuzeichnen, nachvollziehbar zu machen. Mit den Textmusiken entstehen somit wichtige Zeugnisse der Emotionsgeschichte. So verweist u.a. die Musikologin Johanna Ethnersson Pontara auf die besondere Funktion von Musik, Gefühle festzuhalten, auszudrücken, aber auch auf die Fähigkeit, Emotionen beim Publikum zu wecken." Lieder sind Zeugnisse einer Epoche, Bestandsaufnahmen der Zeit, in der sie geschrieben wurden.‘ Lieder können weiters, im Gegensatz zu anderen literarischen und musikalische Genres, schnell und unkompliziert vom Publikum übernommen, nachgesungen werden. Melodien, Rhythmen und Reime halfen und helfen, dass man sich nicht nur die Textmusik merkt, sondern auch deren Botschaft.'* Lieder sind im Prinzip dazu gedacht, dass sie Verbreitung finden. Hinzu kommt, dass Lieder seit Menschengedenken auch zum Heilen und bei Feiern eingesetzt werden.'° Der NS-Terror hinterließ bei vielen Menschen tiefe physische und psychische Wunden. Und die Befreiung gab einen Grund zu feiern. So ist der 8. Mai in Frankreich ein Feiertag, seit 1981 und mit Unterbrechung auch schon davor, an dem die Lieder der Resistance bei den Festivitäten zum Besten gegeben werden. Dass Lieder zum Feiern taugen, ist leicht nachvollziehbar. Doch können sie auch tatsächlich jene Wunden „heilen“ helfen, die die