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NS-Verbrechen hinterlassen haben? Kann die Textmusik Überlebenden und ihren Nachkommen, den „Überwältigten“, wie Jean Améry sie und sich selbst genannt hat,” helfen, eine Bewältigung für sich zu versuchen? Bzw. können diese teilweise weit verbreiteten Musiktexte helfen, ressourcenstärkende Bewältigungsstrategien gegen das Trauma und gegen eine Retraumatisierungen, wie es in der PTSD-Forschung heift,'* aufzubauen, also in einem gewissen Sinne die Wunden zu „heilen“? Dank der Kunst, bzw. dank manchmal weit verbreiteter und populärer Lieder und Chansons über die NS-Verbrechen konnte unter Überlebenden und ihren Nachkommen der für ihren Bewältigungsprozess durchaus hilfreiche Eindruck entstehen, dass das ihnen durch die Gesellschaft zugefügte Leid endlich durch dieselbe wahrgenommen und anerkannt wird. Doch Kunst hat ihre Grenze und Maurice Blanchot umschreibt diese folgendermaßen: „I ya une limite oü !’exercice d’un art, quel qu'il soit, devient une insulte au malheur.“'? Über die Verhöhnung des Unglücks durch die Kunst schrieb Blanchot in Bezug auf Lyrik und Shoah. Sind das Lied und Chanson über die Shoah eine Grenzüberschreitung? Oder erfüllen solche Textmusiken dieselbe Funktion, die Kerstin Sicking in Bezug auf Holocaustkompostionen festhält: „Die Kompositionen aktivieren bestehendes Wissen über den Holocaust und etablieren die dadurch einsetzende Auseinandersetzung im Gedächtnis.“” Greifen auch bei der Textmusik jene Regeln, die Matias Martinez in Bezug auf die künstlerische Darstellung der Shoah, bzw. über den öffentlichen Diskurs über diese, vorschlug, dass nämlich von zentraler Bedeutung sei, „wer in welcher Form, mit welchen Medien und an welches Publikum gerichtet über den Holocaust“?! spricht? Da laut Martinez nur die Existenz solcher Regeln „es sinnvoll [macht], von einem eigenständigen öffentlichen Holocaust-’Diskurs’ zu sprechen“,”” könnte es fast eine bejahende Antwort geben, wenn Martinez nicht im nächsten Satz anführen würde, dass die Regeln „vage, uneinheitlich und oft genug widersprüchlich“ sind.” Zugleich ist nicht aus dem Blick zu verlieren, dass, wie Jean-Luc Nancy es formuliert hat, die Shoah, die alles in Frage stellt, die Menschheit, das Wort, nicht der Vergangenheit angehört, nicht Geschichte ist, sondern gegenwärtig bleibt, die Gegenwart bestimmt: Il faut donc entendre Shoah, tout cet enorme murmure confus et 4 la fois, non pas dabord comme une masse de „paroles sur“, de la memoire et de la conscience éveillée, mais comme un souffle qui ne parle pas vraiment, un souffle d apres la parole et d avant une autre parole. Lentre-deux d'une expiration et dune inspiration, une „parole suffoqué“ (Sarah Kofman). Cet entre-deux ne releve ni de la mémoire, ni de loubli. Il west pas dans la dimension de histoire. Il est dans la dimension du present: il definit notre present, il le présente tout entier comme en un suspens, une longue syncope du sens. Shoah, ou Vimmobilisation du temps present. Ily a eu un „apres-querre‘, puis un apres de l'apres-guerre, mais il n'y a pas d apres-Shoah. Ca résiste au temps, mais non comme un passé présent dans le souvenir: comme le present qui va.“ Kann das Lied, das Chanson diesen „souffle“, diesem Atem, diesen „Hauch“ einfangen, ausdrücken, ihm eine Plattform bieten, ihm verhelfen, in der Gegenwart verankert zu bleiben, oder scheitert die Textmusik genauso wie die mit ihr verwandte Lyrik, wie Nancy schreibt? Chanson und Lied Zur Reflexion ziehe ich Beispiele aus Frankreich, BRD, DDR und Österreich bis ins Jahr 1990 heran. Es sind Lieder aus der Zeit des NS-Terrors, der ersten Nachkriegsjahre, der verschiedenen Phasen des Kalten Krieges bis zu dessem offiziellen Ende. Vergleiche und Unterschiede herauszuarbeiten ist meines Erachtens vor allem deshalb von Bedeutung, weil diese Länder nicht nur eine lange gemeinsame Geschichte geprägt hat, sondern weil die Bedingungen, welche die KünstlerInnen in ihrer Auseinandersetzung mit der Shoah antrafen, sowie die Reaktionen der Öffentlichkeit, höchst verschieden waren. Es wurde aus ganz unterschiedlichen Gründen die Nazi-Zeit tabuisiert.”° Somit spielte Kunst, die die Shoah oder zumindest die Nazi-Verbrechen zum Inhalt hat, eine jeweils ganz unterschiedliche Rolle zwischen Tabubruch, Verklärung, Trauerarbeit und Aufklärung. Es besteht eine enge Verwandtschaft zwischen dem französischen Chanson und dem deutschsprachigen engagierten Lied. Diese geht in erster Linie auf die Vorbildfunktion zurück, die französische LiedermacherInnen für ihre deutschsprachigen KollegInnen besaßen. So war z.B. Franz Josef Degenhardts Vorbild Georges Brassens.?° Andererseits spielten aus Deutschland Geflüchtete, wie Norbert Glanzberg, Joseph Kosma oder Friedrich Hollaender, eine wichtige Rolle in der Geschichte des Chansons. So kann der 1905 in Budapest geborene Joseph Kosma als vielleicht bedeutendster Chanson-Komponist bezeichnet werden, der, bevor er 1933 nach Paris flüchtete, in Berlin Komposition studiert hatte und mit Brecht und Eisler befreundet war. Fast alle Gedichte Jacques Preverts, wie „Les feuilles mortes“, wurden von ihm vertont. Es existiert also eine starke künstlerische Verbindung. Auch auf anderen Ebenen gab es ein Zusammenspiel. So war nach 1945 einer der bedeutendsten Plattenproduzenten Frankreichs für das Chanson der jüngere Bruder Elias Canettis: Jacques Canetti.” Er brachte zuerst für Philips, und ab 1963 in seinem eigenen Label fast alle Großen des Chansons heraus. Gemeinsam haben die meisten meiner Beispiele, vor allem jene aus Frankreich, dass sie bis in die Gegenwart immer wieder neue Interpretationen erfahren und einem breiten Publikum bekannt sind. Bezüglich der Entstehungsgeschichte stellt sich die Frage, mit welcher Intention sie geschrieben, unter welchen Bedingungen sie verfasst und aufgeführt wurden. Ein Großteil der ersten KünstlerInnen in Frankreich, die die NS-Verbrechen thematisierten, waren Überlebende der Shoah oder deren Nachkommen. Erste Chansons über die Shoah wurden erst Mitte der 1950er-Jahre produziert. Auf deutschsprachige Lieder musste man noch fast zwei Jahrzehnte länger warten. Die Entstehungsgeschichte ist in fast allen Fällen von politischen Ereignissen geprägt. So ist z.B. nachvollziehbar, dass in Frankreich viele Lieder, in denen explizit die Shoah thematisiert wird, in den Jahren nach den Auschwitzprozessen in Frankfurt a.M. entstanden sind. Über diese Prozesse wurde auch im französischen Fernsehen berichtet, so am 8. Mai 1964 in der Sendereihe ,,Cing colonnes a la une“ im RTF Télévision (ORTF) in der u.a. Germaine Tillion interviewt wird, Überlebende der „Nacht und Nebel“-Deportationen.”® Dass die Sendung am 8. Mai ausgestrahlt wurde, hing natürlich mit der Besonderheit des Datums zusammen, wobei, was natürlich auch für die in dieser Zeit entstandenen Chansons von Bedeutung ist, Präsident Charles De Gaulle, der sich anbahnenden deutsch-französischen Freundschaft zuliebe, 1959 den Nationalfeiertag abgeschafft hatte. Endgültig eingeführt wurde er erst wieder SEPTEMBER 2023 13