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1981 unter Frangois Mitterrand. Einer der Verantwortlichen der Sendereihe ,,Cing colonnes a la une“ war eine der zentralen Figuren der Résistance: Pierre Lazareff, der in den 1920er-Jahren, lange bevor er einer der wichtigsten JournalistInnen Frankreichs wurde, Assistent der berühmten Chanteuse Mistinguett war.” Lieder des Überlebenskampfes Um die nach 1945 entstandenen Textmusiken besser einordnen zu können, gilt es deren Vorgänger, in deren Tradition und Nachfolge sie sich oft einschrieben, zu erfassen. Während der NS-Zeit entstanden Lieder in den KZs, so unter anderen Jura Soyfers und Herbert Zippers „Dachau Lied“ oder Hermann Leopoldis und Fritz Beda-Lohners ,,Buchenwaldlied“.*° Es waren keine Lieder des Untergrunds, sie wurden offen von den Häftlingen als Marschlieder gesungen. Das Singen und Musizieren gehörte zum Tagesablauf im Lager, setzten doch die Nazis die Musik gezielt im Rahmen der Appelle, der Zwangsarbeit und ihres Mordens, aber auch zu ihrer Unterhaltung beim Morden ein, wie überlebende MusikerInnen wie Simon Laks und René Coudy,*! Anita Lasker-Wallfisch,” Herbert Zipper” berichten und u.a. Milan Kuna beschreibt.’ Simon Srebnik, einer von zwei Überlebenden des Vernichtungslagers Chelmno, wo 400.000 Menschen ermordet wurden, erzählt zu Beginn von Claude Lanzmanns Dokumentarfilm „Shoah“, wie er als 13-jähriger Bub den Mördern beim Morden seine Lieder vorsingen musste. Außerhalb der Lager, des „univers concentrationnaire“, entstanden Lieder des Widerstands, welche vom Kampf gegen die Nazis, von deren Gewaltregime, oder von der eigenen Verfolgungs- und Fluchtgeschichte erzählen. Berühmt ist das von Anna Marly und Emmanuel d’Astier de la Vigérie 1943 in London verfasste und über die BBC verbreitete Chanson „La complainte du partisan“,® welches nach 1969 dank Leonhard Cohens Fassung „Ihe partisan“ weltberühmt wurde. Im Schweizer Exil sang 1943 die als Jüdin verfolgte französische Sängerin Renee Lebas, deren Vater und jüngere Schwester beim Rafle du Vel’ d’hiv festgenommen und in Auschwitz ermordet wurden, das Chanson „Exil“. Autor war der junge Liedermacher Frangois Reichenbach, der ebenfalls in die Schweiz geflüchtet war. In der Schweiz wirkte zu diesem Zeitpunkt der antifaschistische Schweizer Chansonnier Jean Villard, der die Geflüchteten auch unterstützte. Nach 1945 eröffnet er in Paris ein Kabarett, das für das französische Chanson von zentraler Bedeutung sein sollte.*° Villard gilt als Vorläufer der sich nach 1945 etablierenden VertreterInnen des politischen und anspruchsvollen Chansons des „rive gauche“, als „auteur-compositeur-interpretes“ avant la lettre, da er schon vor 1940 seine Karriere in Paris gestartet hatte.” In Marlys oder Lebas Chansons werden der Widerstand, die NS-Verbrechen allgemein und das Exil thematisiert, nicht jedoch die Shoah, bzw. noch nicht, denn die ersten Belege und Zeugnisse der Massenmorde kamen erst Ende 1943 an die Öffentlichkeit, wie z.B. in der von Pierre Lazareff herausgegebenen Pariser Untergrundzeitung „Defense de la France“ oder in dem 1943 in den USA erschienenen „Black Book of Polish Jewry“, wo man Berichte u.a. über den Aufstand im Warschauer Ghetto und über die „gas-chambers of Treblinka and Belzec“*” lesen konnte. In Frankreich existierte eine starke und weitverbreitete Untergrundptesse. In Zeitschriften wie „Confluences“ publizierten unter Pseudonym namhafte, meist von der Polizei gesuchte Intellektuelle 14 ZWISCHENWELT und DichterInnen.“ Einer von ihnen war Louis Aragon. Seine Gedichte aus dieser Zeit sind deshalb für unser Thema von Bedeutung, da sie nach der Befreiung von SängerInnen wie L£o Ferr£, Jean Ferrat, Monique Morelli, Brassens ins Programm genommen wurden. Die meisten Gedichte, die adaptiert wurden, waren Liebesgedichte. 1945 analysierte Herbert Marcuse diese für den OSS und untersuchte, ob Kunst selbst im totalitären Zeitalter Mittel des Widerstandes sein kann. Für Marcuse ist nicht der Inhalt ausschlaggebend, sondern die Form, wenn sie es schafft, oppositionelles Ausdrucksmittel zu sein. So schreibt er in seinem Bericht zu Aragons Liebesgedichten: Sinnlichkeit als Stil, als künstlerisches Apriori drückt den individuellen Protest gegen Gesetz und Ordnung der Unterdrückung aus. Sinnliche Liebe gibt eine ,promesse du bonheur“ [...].*' Doch driicken Lieder wie ,,Elsa“ oder ,,Paris 42“ mehr als nur Eskapismus aus. Sie sind Werkzeuge der Entfremdung, gedacht, sich auch der in Frankreich ausbreitenden LTT, sowie der Gleichschaltung durch einen „monopolistischen Lebensstil“? entgegen zu stellen. Denn diese „Entfremdung kann die künstlerische Basis liefern für die Erinnerung an die Freiheit in der Totalitat der Unterdrückung.“ Es bleibt zu untersuchen, inwieweit die Chansons, die aus Aragons Gedichten entstanden, die NS-Verbrechen thematisieren. Aragon war eine der zentralen Führungspersönlichkeiten der französischen Resistance und deshalb nicht nur Zeuge der NS-Verbrechen, die er in Frankreich miterlebte, sondern dank seiner politischen Position besser und früher als viele über das Morden in ganz Europa informiert. Die meisten Gedichte stammten aus dem 1956 erschienenen Gedichtband „Le Roman inacheve“ (Der unvollendete Roman). Treblinka dort Die Shoah wird zu diesem Zeitpunkt von jenen in Dichtung und Liedern aufgegriffen, die sie selbst erlebt haben, wie z.B. von Hirsh Glik in seinem Widerstandslied aus dem Warschauer Ghetto „Zot Nit Keynmol“ oder von Sholom Secunda und Aaron Zeitlin in ihrem 1940 verfassten Lied „Donna Donna“, welches ursprünglich „Dos Kelbl“ hieß, um nur die bekanntesten, meist auf Jiddisch geschriebenen Lieder zu nennen. Nach der Befreiung waren es auch diese Lieder, nachdem sie einen Übersetzungsprozess erfahren hatten, die von Weltstars wie Paul Robeson bis Joan Baez und Donovan aufgegriffen wurden. Doch die Version von „Donna Donna“ des populären französischen Sängers Claude Francois aus dem Jahr 1964 zeigt, wie aus Zeugnissen der Shoah das Zeugnis der Shoah „weggetextet“ werden kann. Claude Francois „Hit“ hatte nichts mehr mit dem ursprünglichen Lied zu tun. Manche Lieder fanden ihren Weg nur sehr spat und dank der Holocaustforschung an die Offentlichkeit. Von der Uberlebenden des Warschauer Ghettos Frieda Bursztyn Radasky kennt man das unter den Deportierten verbreitete Lied über das Vernichtungslager Treblinka „Ireblinka dort“, über jenen Ort, von dem man nicht zurückkehrt. Das Lied wurde um 1943 geschrieben, um die Menschen in den Ghettos zu warnen oder auf das Kommende vorzubereiten, denn „many deportees believed the Nazi propaganda that the trains were headed to work camps, where survival was possible. Radasky and her coworkers knew the trains led to death camps. Ihere Lies Treblinka was their way of acknowledging the