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Rita Mitsouko“ das Pop-Chanson „Le Petit Train“ (Der kleine Zug) heraus, das sich direkt auf die Deportationen bezieht. Die Sängerin des Duos Catherine Ringer ist die Tochter des polnischen Malers Samuel Ringer, der mehrere KZs überlebte und nach der Befreiung zuerst nach Israel und danach nach Frankreich ausgewandert war. Jankel In den beiden Deutschlands und in Österreich kam es im Lied mit einigen Jahrzehnten Verspätung zur Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen. Und die Gedichte Theodor Kramers waren hierbei von besonderer Bedeutung. Dabei waren es, im Gegensatz zu Frankreich, meist nicht Lieder Überlebender, sondern Lieder der Generation der „Flakhelfer““ oder, wie sich dies auch in der westdeutschen und österreichischen 68er-Bewegung ausdrücken sollte,” Lieder von Söhnen und Töchtern der nicht Verfolgten. Ausnahmen unter den LiedermacherInnen stellen u.a. Wolf Biermann, André Heller, Arik Brauer, Georg Kreisler dar. Überhaupt kam es in der BRD, und in Folge auch in Österreich, klammert man das Kabarett aus, zur Wiedergeburt des ab 1933 durch die Nazis zerstörten linken, kritischen und antifaschistischen Liedes erst Mitte der 1960er-Jahre mit dem „Festival Chanson Folklore International“ auf Burg Waldeck in Deutschland, wo sich kritische KünstlerInnen aus der ganzen Welt austauschten.“® Franz Josef Degenhardt, der sich anfangs in der Tradition von Bert Brecht, Hanns Eisler und Ernst Busch sah und dessen Vorbild Georges Brassens war, bezog sich auf dem Festival in seinen Liedern als einer der ersten auf den Nazi-Terror. Degenhardt kam aus dem Ruhrgebiet und wurde früh Sozialist und bald Kommunist.’ Seine Kindheit in Nazi-Deutschland beschrieb er in seinem ersten, 1973 erschienenen, autobiografischen Roman „Zündschnüre“, welcher 1974 verfilmt wurde. Im Vergleich zu vielen seiner deutschsprachigen KollegInnen aus dieser Zeit, mit Ausnahme Wolf Biermanns, war der SPD-Gemeinderat und Universitätsdozent Degenhardt mit Plattenauflagen von bis zu 40.000 Stück, Bestsellerromanen und Verfilmungen einem breitem Publikum bekannt. ”' In der DDR sang 1967 Ernst Busch, der Schauspieler und Sänger des Antifaschismus und der Zeit vor 1933 und der Internationalen Brigaden in Spanien, das Lied „Solang die Mörder leben auf der Welt“. Ernst Busch war einerseits einer der letzten Repräsentanten einer von den Nazis zerstörten Arbeiterkultur, andererseits wurde er in der BRD, wie es Thomas Rothschild formulierte, „totgeschwiegen“.’” „Solang die Mörder leben auf der Welt“ erschien auf der Platte „Der Heilige Krieg — Frieden der Welt“, es war die Übersetzung des gleichnamigen Gedichts des Sowjetischen Schriftstellers Jewgeni Jewtuschenko. Dieser hatte schon 1961 das Gedicht „Babi Jar“ verfasst, ein Gedicht über den Massenmord an Juden und Jüdinnen. Dmitri Schostakowitsch vertonte „Babi Jar“ in seiner 13. Symphonie, welche nach der Uraufführung in Moskau 1962 für einige Aufregung sorgte.” Trotz „Tauwetter-Periode“ in der Sowjetunion musste Schostakowitsch eine tiefgreifende Änderung der Strophen zulassen. Zuvor hatte es gcheißen, Jewtuschenko habe, weil er ausschließlich das Leid der Juden und Jüdinnen thematisierte, das Andenken der gefallenen russischen Soldaten besudelt und würde bourgeoise Ideologien vertreten.‘ 16 ZWISCHENWELT In der BRD führte das politische Lied bis 1968, als das engagierte Chanson in Frankreich schon Säle füllte, noch eine Randexistenz und es herrschte im Lied, wie Thomas Rothschild schreibt, die „Kritik der leisen Töne.“’”° Erst mit der 68er-Bewegung sollten die Töne lauter werden. Trotzdem sang erst 1980 z.B. Wolf Biermann in seinem Programm „Eins in die Fresse, mein Herzblatt“ im Lied „Schlaflied für Tanepen“ über Dachau, über das Grauen, dem die Roma und Sinti ausgesetzt waren, ein Grauen, dass sich im Geiste, wie Biermann singt, nach 1945 fortsetzte. Biermanns Vater ist in Auschwitz ermordet worden, sowie dessen jüdische Familie in Minsk.’* Wolf Biermann ist für das engagierte Lied in der BRD und der DDR von zentraler Bedeutung und hat, wie es Thomas Rothschild formulierte: „nach Hanns Eisler Maßstäbe gesetzt. Und zwar als Dichter, als Komponist und als Interpret.“ In den Jahren vor Erscheinen von Biermanns Album hatte zwischen 1976 und 1980 der österreichische Sänger Andre Heller die drei LPs „Abendland“, „Basta“ und „Verwunschen“ herausgebracht, ”® auf denen in den Liedern „Mein Freund Schnuckenack“ der Porajmos, „Angstlied“ der Antisemitismus, „Emigrantenlied“ das Exil und „Jankel“ die Shoah, auf eine Art und Weise thematisiert wurden, wie meines Erachtens bis dahin beispiellos im deutschsprachigen Lied. Andre Heller kam aus einer Familie von NS-Verfolgten, sein Vater musste als Jude vor den Nazis flüchten und hatte auf Seiten der Alliierten gegen diese gekämpft. Mit der Gründung seines eigenen Plattenlabels „Mandragore“ hatte sich Andre Heller die Möglichkeit geschaffen, unabhängig von Produzenten und Verlegern „Musik seiner Wahl‘”? zu produzieren. „Mandragore“ gehörte zwar zum deutschen Label „Intercord“ der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck, war aber autonom. So brachte Heller u.a. zwei Platten des jiddische Lieder singenden Duos „Geduldig und Thimann“ heraus. Es waren dies in Österreich nach 1945 die ersten Plattenproduktionen in jiddischer Sprache. In „Jankel“ lenkt Heller nicht, wie seine KollegInnen in fast allen deutschsprachigen Liedern, durch eine allgemeine Gesellschaftskritik und eine Faschismusanalyse von dem Verbrechen an den Juden und Jüdinnen ab, sondern singt ausschließlich, wie Lafforgue oder Goldman, über den Mord an einem jüdischen Kind. Diese direkte Konfrontation blieb eine Seltenheit, denn, wie Ole Löding schreibt: „Viele erfolgreiche Songschreiber [stellten] die nationalsozialistischen Verbrechen als allgemeingültige Metapher für menschliches Verhalten dar oder setzten sie gar mit anderen Gewalttätigkeiten gleich.“*’ Manche gingen, wie Heinz Rudolf Kunze in seinem Lied „Die kommen immer wieder“ aus dem Jahr 1982 sogar so weit, Analogien zwischen den NS-Verbrechen und dem Vorgehen der israelischen Armee im Libanon-Krieg herzustellen.°' Dies kann durchaus als Beispiel des unter einem Teil der deutschsprachigen Linken verbreiteten „SchuldabwehrAntisemitsmus“® verstanden werden. Der österreichische Liedermacher und spätere u.a. Mitbegründer des „Offenen Hauses Oberwart“ Peter Wagner war 1981 der erste, der im Titel eines Liedes „Auschwitz“ wendete und somit einer der wenigen Vorreiter einer „neuen verSensibilitat*,** wenngleich sein Lied nicht die Shoah, sondern den Porajmos zum Inhalt hat. In den 1980er Jahren vertonten das Duo „Zupfgeigenhansl“ oder die Band „Schmetterlinge“ Arbeiten verfolgter und ermordeter Dichter wie Theodor Kramer®®