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und Jura Soyfer, dabei wurden auch Lieder produziert, die das Exil und den NS-Terror thematisieren. 1979 hatte „Zupfgeigenhansl“ auf ihrer Platte mit jiddischen Liedern „'ch Hob Gehert Sogn“ Lieder wie „Dos Kelbl“ und „Sog Nischt Kejnmol“ verbreitet. 1985 erschien ihre Platte „Andre, die das Land so sehr nicht liebten“, mit Liedern nach Gedichten "Theodor Kramers. Das Titellied hatte zum Inhalt das Exil? und war, wie „Der Ofen von Lublin“ erstmals 1946 im Gedichtband „Wien 1938 / Die grünen Kader“ veröffentlicht worden.” Im Gegensatz zu Norbert Glanzberg hatte sich das Musikerduo jedoch nicht an die Vertonung von „Der Ofen von Lublin“ gewagt. Erstickte Stimme? Es existieren nicht viele Lieder und Chansons über die Shoah, und es wurde auch erst wenig dazu geforscht. Ob Kunst, Lyrik, Musik über die Shoah verfasst werden kann, darf oder soll, darüber hat man seit Adorno, Kofman und Blanchot schon viel reflektiert, genauso wie darüber, wie diese Musik zur Erinnerungsarbeit, im Dienste des „devoir de m&moire“ beitragen kann. Die Überlegungen Sarah Kofmans und Maurice Blanchots über die Möglichkeit der Literatur und der Sprache, sich mit der Shoah auseinanderzusetzen, sind gerade in Bezug auf das Lied, das Chanson von Bedeutung. Die Unmöglichkeit über Auschwitz zu sprechen, versuchte Sarah Kofman damit zu erklären, dass man beim Sprechen darüber „einem Wörterdelirium anheim fällt und es zugleich unmöglich ist zu sprechen [...] Unmöglich ohne zu ersticken.“ Schon alleine dieses Bild des Erstickens bringt zum Ausdruck, wie eigentlich nicht gesungen werden kann. Denn zum Singen braucht es schließlich den Atem. Chansons und Lieder zur Shoah wurden in den Kultur- und Musikwissenschaften anfangs zu den Widerstandsliedern gezählt, wie in Serge Dillaz’ „La chanson francaise de contestation: De la Commune & Mai 68“ (Das französische Protestlied. Von der Commune bis Mai 68) erschienen 1973. Der Dichter Serge Dillaz gilt als einer der ersten Erforscher des zeitgenössischen Chansons. Die Forschung zur politischen Textmusik ist noch eine relativ junge. Eine der ersten umfangreichen Untersuchungen zum Chanson als ’neunte’ Kunst, dessen Gattungsspezifikum die Vermengung von Text, Musik und Interpretation ist, und zu seiner gesellschaftlicher Funktion, ist die 1984 veröffentlichte Arbeit „Existenzialismus und französisches Chanson“ von Ursula Mathis-Moser. Die österreichische Forscherin untersuchte darin, wie im Chanson „internalisierte Normen“ problematisiert und „Wirklichkeit“ erhellt werden.” Dem Chanson sowohl als historisches Zeugnis, als auch als Zeugnis des Zustands einer Gesellschaft, wird in Frankreich seit den späten 1990er-Jahren verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt, so z.B. vom Musiker und Musikologen Pierre Saka?! und vom Intellektuellenforscher Pascal Ory.” In den letzten Jahren hat sich vor allem der Begriinder der Cantologie Stéphane Hirschi als einer der ersten bemüht, der Frage nachzugehen, wie die Shoah im Chanson als Thema aufgegriffen wird.” Auch zu den deutschsprachigen LiedermacherInnen gab es lange, trotz der Arbeiten von Thomas Rothschild und Philipp Maurer zum politischen Lied, keine Untersuchungen, die auf das Lied und die NS-Verbrechen, geschweige denn auf die Shoah eingingen. Explizit hat sich damit erst Ole Löding in seiner 2010 veröffentlichen Arbeit „'Deutschland Katastrophenstaat’. Der Nationalsozialismus im politischen Song der Bundesrepublik“ beschaftigt.°4 In Österreich hat sich vor allem Gerhard Scheit sowohl mit Holocaustkompositionen, als auch mit der Kritik Theodor W. Adornos an der Pop-Kultur und dessen differenzierter Sichtweise auf Kunstautonomie und Kulturindustrie auseinandergesetzt.” Doch eine Auseinandersetzung mit der Thematisierung der Shoah von in Österreich entstandenen Liedern fand noch nicht statt. Nur in Ole Löding „Deutschland Katastrophenstaat“ erfährt man einiges über einige österreichische LiedermacherInnen, wie die Schmetterlinge, und deren Aufgreifen des NS-Terrors als Sujet. Wie nie ein Singen sein Inwieweit haben die Textmusiken zur Aufklärung über die NSVerbrechen beigetragen, z.B. durch Einsatz im Schulunterricht oder als Auslöser öffentlicher Diskussionen? Inwieweit haben sie die aus den Tabus und der Verdrängung entstandenen Mythen in der Öffentlichkeit gestärkt oder geschwächt? Im Kontext der Holocaust-Education werden in Frankreich seit einigen Jahren einschlägige Chansons herangezogen. Dabei stellt sich immer wieder die Frage: Können uns Lieder und Chansons helfen, zusätzlich zur z.B. autobiografischen Literatur, jene Leere zu füllen, die das Ausbleiben von Überlebenden der Shoah als ZeitzeugInnen hinterlässt? In Frankreich jedenfalls ist man davon überzeugt. Textmusiken gelten als wichtiges Unterrichtsmittel neben Film, Literatur” und Graphic Novels, ob im Zusammenhang mit der Shoah oder mit anderen zentralen politischen, historischen oder gesellschaftlichen Ereignissen. Dass man im Kontext der Holocaust-Education versucht, neue Wege zu gehen, zeigt z.B., dass 2017 das „Memoiral de la Shoah“ in Paris eine Ausstellung der Darstellung der Shoah in Graphic Novels ,,Shoah et bande dessinée. Limage au service de la memoire“” widmete. 2020 war das Chanson an der Reihe und das Memorial organisierte am 27. Jänner eine Gedenkveranstaltung mit Chansons unter dem Titel „Quand la chanson se souvient de la Shoah“ (Wenn sich das Chanson an die Shoah erinnert) .°? Der Liederabend ging in Folge auch auf Tournee. Einer der Initiatoren war der Sanger und Schauspieler Serge Hureau,” der zugleich auch Direktor des ,,Hall de la Chanson“ ist,'° der ersten Einrichtung Frankreichs, die sich in Kooperation mit Ministerien, Archiven, Musikkonservatorien dem Chanson als Kulturerbe widmet und im Pariser Vorort La Villette SangerInnen schult, und zwar weniger in Gesangtechnik, als vielmehr in der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Chansons. Als Norbert Glanzberg die Gedichte in ,,Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ las, war er tief bewegt, denn viele dieser Gedichte waren ,,lebensbejahend, obwohl sie doch eigentlich von tiefer Verbitterung und Verzweiflung hatten zeugen miissen.“'”! Und er fragte sich immer wieder, wenn er die Gedichte las, und bevor er sie vertonte, wie hatten diese LyrikerInnen, die zumeist, und im Gegensatz zu ihm, ermordet wurden, „so etwas schreiben können.“'” Wohl hat er Lieder aus den Gedichten gemacht, um eine Antwort auf diese eine Frage zu finden... Theodor Kramer hat Gedichte geschrieben, die dank ihres Aufbaus, ihres Rhythmuses leicht zu vertonen sind. Beim Schreiben SEPTEMBER 2023 17