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Die Frage lässt sich allerdings auch andersherum stellen: Wie reagiert die Geschichtswissenschaft auf ihr gesellschaftliches Umfeld, auf dieses merkwürdige Amalgam aus öffentlicher Gedenkkultur und stillem Desinteresse, so wie es sich uns heute darstellt? Dieses Umfeld hat sich in den 78 Jahren nach Kriegsende in Wellen verändert, in den sechziger, siebziger und dann in den neunziger Jahren kulminierte die Erinnerung an den Holocaust, dazwischen aber gab es auch immer wieder lange Phasen wachsender Gleichgültigkeit. Als im Jahr 2004 mit der Arbeit an der Edition begonnen wurde, war das auch ein Reflex auf die erneut nachlassende Bereitschaft zur Erinnerung. Allein schon der gewaltige Umfang des Projekts — 16 Bände mit mehr als 5300 Quellen auf fast 13.500 Druckseiten — bezeugt den Willen der Beteiligten, dem schrecklichsten Kapitel der europäischen Geschichte auf besondere Weise gerecht zu werden. Kein Editionsprojekt deutscher Sprache zum Holocaust hat eine ähnlich monumentale Dimension. Wer allerdings auf diesen vielen Seiten nach einem Motiv sucht, zu dem sich die Herausgeber explizit bekennen, findet dazu wenig. Gewiss, das europäische Gesamtbild soll dokumentiert werden, eine Perspektive, die in der Forschung zu den nationalsozialistischen Verbrechen relativ spät in den Fokus rückte. Wenn man so will, geht es um die Schließung einer Marktlücke des Wissenschaftsbetriebs, um eine Aufgabe, der man sich erst stellen konnte, seitdem viele osteuropäische Archive in den neunziger Jahren überhaupt zugänglich wurden. Aber für wen macht man das? Nur für die Kollegen, die Branche? In der Einleitung zum ersten Band grenzen die Herausgeber ihre Arbeit von jenen „thematisch übergreifenden Dokumentationen“ ab, „die auf pädagogische Wirkung angelegt sind“. Man kann über den Begriff „pädagogische Wirkung“ streiten. Doch wer mit mehr als 100 Herausgebern, Mitarbeitern, Zuträgern und Übersetzern eine solche wissenschaftliche Großtat in Angriff nimmt, der will etwas bewirken, dem muss man einen pädagogischen Impetus unterstellen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die eigene Zunft, sondern auf ein größeres Publikum. Schließlich ist inzwischen sogar eine Paperback-Ausgabe erschienen, die das Werk für jeden Interessierten erschwinglich macht. Man sollte sich also zu seinen Zielen auch bekennen. Wer als Historikerin oder Historiker mit seiner Arbeit Wissen schafft und gegen das Nichtwissen oder gar Nichtwissenwollen der ewig Gestrigen und Holocaust-Leugner antritt, der erfüllt eine politische Aufgabe. Ich vermute allerdings, dass sich die Zurückhaltung der Herausgeber bei der Formulierung eines politischen Ziels auch mit den schmerzhaften und für viele gewiss überraschenden Ergebnissen erklärt: Noch nie, so jedenfalls mein Eindruck, wurde von einem internationalen Team von Historikerinnen und Historikern die schuldhafte Verstrickung der europäischen Nachbarvölker in den nationalsozialistischen Holocaust so ausführlich dokumentiert. Noch nie wurde ähnlich detailliert dargestellt, wie sich die Prozesse der Verfolgung europaweit in vielen Ländern mehr oder weniger parallel entwickelten: von der alltäglichen Diskriminierung der Juden durch ihre Nachbarn über staatliche Grundtechtseinschränkungen und polizeiliche Übergriffe bis zur Ermordung in den von den Deutschen errichteten Vernichtungslagern in Osteuropa. Dieser Verlauf lässt sich in Frankreich, Belgien und in den Niederlanden beobachten, in Polen, Rumänien, Ungarn, ja vielerorts. Und so lesen sich die Dokumente der Edition wie ein gigantisches Tagebuch voller Hass und Brutalität, brutalem Zerstörungswahn und ideologischem Fanatismus, aber auch voller Ängste und 20 ZWISCHENWELT enttäuschter Hoffnungen. Jede Leserin, jeder Leser wird hier in ein Wechselbad der Emotionen geschickt, wird Zeuge von Niedertracht und Hilflosigkeit, Verachtung und Verzweiflung. Die extremen Situationen, so zeigen die Texte, führen auf Seiten der Opfer zu extremen Gefühlsbekundungen und auf Seiten der Täter zu unfassbarer Teilnahmslosigkeit und bösartigem Zynismus. Doch so erschütternd diese Zeugnisse sind: Das gewählte Verfahren, also die allein chronologisch geordnete Präsentation von Dokumenten, die zu einem erheblichen Teil erstmals auf Deutsch veröffentlicht werden, hat den Vorteil einer objektiven, nicht von Meinungen oder Vorurteilen geprägten Darstellung. Die Quellen sprechen buchstäblich für sich. Die Herausgeber aller Bände beschränken sich jeweils auf eine längere Einleitung und eine beeindruckende Masse von hilfreichen, erklärenden Anmerkungen zu den abgedruckten Dokumenten. Verzichtet wird grundsätzlich auf eine Bewertung des Materials, nur ganz selten kommt es zu Verletzungen dieser Regel — in der Einleitung des ersten Bandes wird von „Distanzsignalen“ gesprochen —, etwa wenn ein Beitrag von Joseph Goebbels für die Zeitschrift „Das Reich“ aus dem Jahr 1941 als „Hetzartikel“ tituliert wird. Das ist selbstverständlich nicht falsch, aber doch inkonsequent. Denn bei den von den Tätern verfassten Texten handelt es sich in sehr vielen Fallen um Hetzartikel oder Hetzschriften, ohne dass sie von den Herausgebern so tituliert werden. Die in der Regel wertungsfreie Präsentation der Täterdokumente fordert Leser und Leserinnen emotional mindestens so sehr heraus, wie es die Masse erschütternder Opferdokumente tut. Wer sich darauf einlässt, größere Teile der Edition am Stück zu lesen, wird unweigerlich bedrückt und belastet. Selbst die neutralen Quellen, etwa amerikanische Zeitungen aus den dreißiger und frühen vierziger Jahren, machen es nicht besser. Häufig genug zeugen sie von sehr genauen Kenntnissen dessen, was damals in Europa geschah. Zu selten bedacht wird die Tatsache, dass auch die an einem solchen Editionsprojekt Beteiligten einem erheblichen emotionalen Stress ausgesetzt sind. Selbst das, was in der Wissenschaft normalerweise Euphorie und Genugtuung auslöst, die neue Erkenntnis etwa, der Einblick in das bislang Unbekannte, kann die dunkle Grundstimmung kaum aufhellen. Wer sich tagein, tagaus mit dieser Materie beschäftigt, legt sich vielleicht eine Art Panzer zu, um all das Leid zu ertragen. Aber ich weiß von vielen Forschern, dass ihnen dieser Stoff extrem zusetzt. Ich spreche hier in einer Doppelrolle. Ich bin Journalist und Historiker, aber auch Nachfahre von Holocaust-Opfern. Ausschnitte aus den Briefen meiner in Auschwitz ermordeten Großmutter Lilli Jahn befinden sich in Band 11 der Edition. Die letzte noch lebende Tochter Lillis sowie Lillis Enkel und Urenkel in Deutschland, England und Israel empfinden in Anbetracht der Tatsache, dass Lillis Schicksal in diese, wenn man so will, kanonische Sammlung aufgenommen wurde, eine gewisse Befriedigung. Lilli war aber nur eines von mehr als 20 Opfern, die die Familie meiner Mutter im Holocaust zu beklagen hatte. Aber immerhin, Lilli wird hier ein Denkmal gesetzt. Und ich bin sicher, dass viele andere Nachfahren von Holocaust-Opfern ebenfalls dankbar sind, dass ihre Schicksale hier erzählt werden. Die Nachfahren werden sich und ihre Familiengeschichten in vielen Dokumenten wiedererkennen, sie werden Zusammenhänge herstellen können, die ihnen bisher nur in groben Umrissen vertraut waren. Wenn man etwa in dem in der Edition abgedruckten Protokoll der Wannseekonferenz von einer möglichen Ermordung oder Sterilisation der sogenannten Mischlinge ersten und zweiten