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feststellen, dass der Judenmord im Echolot nur eine marginale Rolle spielt, Kempowski zitierte vor allem Briefe und Tagebücher, die das Leiden der Soldaten in Russland und das Schicksal an der Heimatfront beschreiben. Der beginnende Holocaust erscheint hier nur als Fußnote der Geschichte. Der große Erfolg dieses Buchs zeigt, wie verzerrt und selektiv die Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs vor 20 Jahren war. Die in der Edition gedruckten Dokumente der jüdischen Opfer lassen ein ganz anderes Bild dieser Zeit entstehen. Sie bilden den Schlusspunkt eines sich über zwölf lange Jahre erstreckenden Opfernarrativs. Zu Beginn der Verfolgung war diese Erzählung noch von ungläubigem Staunen und stillem Protest beherrscht, dann mischten sich wachsende Ängste darunter, am Ende zeigt sich auch Panik. Besonders schmerzhaft für heutige Leserinnen und Leser sind jene Texte, in denen die drohende Gefahr unterschätzt und die Möglichkeit, das eigene Schicksal noch selbst zu bestimmen, fatal überschätzt wird. Im Februar 1933 etwa registrierte die Wochenzeitung des „Centralvereins“ eine Attacke von drei Nazis auf einen jüdischen Kaufmann. „Der rohe Überfall“, so heißt es in dem Bericht, „ist um so unverständlicher, als Kaufmann Bachrach niemals politisch hervorgetreten ist und sich persönlich wie geschäftlich allgemeiner Beliebtheit erfreut.“ Als ob solche Maßstäbe noch eine Rolle gespielt hätten, ließe sich dem heute entgegnen. Damals freilich wusste man es noch nicht besser. Oder: am 10. September 1939 schrieb der Breslauer Willy Cohn in seinem Tagebuch über die Inhaftierung von sechs jüdischen Frauen, die auf einer Parkbank in der Nähe eines Krankenhauses für verletzte Soldaten gesessen hatten und nach Aussage eines Zeugen gelacht hätten. „Die Frauen müssen sich heute auf der Gestapo melden“, schrieb Cohn. Und dann weiter: „Notwendig wäre ja nicht, dass unsere Leute sich zu sechst auf die Hohenzollernstraße auf eine Bank setzen.“ Im selben Jahr rief auch die jüdische Gemeinde der ungarischen Stadt Pest ihre Mitglieder zu besonderer Vorsicht auf: „Wir dürfen niemals vergessen, dass dieses Land unser Vaterland ist, auch dann nicht, wenn seine Bewohner uns stiefmütterlich behandeln, und wir müssen mit all unseren Taten weiter danach trachten, dass wir nützliche Bürger werden.“ Die Vorstellung, man könne den Vernichtungswahn der Täter durch defensives Wohlverhalten bremsen und von sich ablenken, durchzieht viele Opfer-Dokumente der Edition. Heute wissen wir es besser, aber wer wollte den Verfolgten vorhalten, dass sie damals zu lange an die Rationalität von Argumenten glaubten? Jede Leserin, jeder Leser der Edition wird die Fülle von Dokumenten auch nach persönlichen Kriterien scannen, um eigene Hypothesen zu verifizieren — oder auch zu falsifizieren: Uberrascht hat mich zum Beispiel die große Zahl von Dokumenten, die die Habgier der nichtjiidischen Nachbarn in vielen Ländern Europas bezeugen, die skrupellose Bereitschaft zum Diffamieren und Anschwärzen. Auch das widersprüchliche Bild der Wehrmacht entsprach nicht meinem Vorurteil. Es finden sich eine Reihe von Quellen, die den Widerstand von Offizieren und Soldaten gegen die Misshandlung und Ermordung jüdischer Zivilisten hinter der Front dokumentieren. Aufschlussreich sind auch jene Dokumente und biographischen Anmerkungen, die einen Zusammenhang zwischen Täterkarrieren aus der NS-Zeit und der Fortsetzung dieser Karrieren nach dem Krieg offenbaren. Etwa dass der in der Bundesrepublik als Edel-Nazi hofierte Albert Speer 1938 jüdische Mieter aus ihren 22 _ ZWISCHENWELT Wohnungen werfen ließ, um seine größenwahnsinnigen Pläne für eine neue Reichshauptstadt verwirklichen zu können. Oder dass der Leiter der sogenannten Umwanderer-Zentralstelle Posen, der SS-Sturmbannführer Rolf-Heinz Höppner, nach dem Krieg als Oberregierungsrat im Bonner Wohnungsbauministerium tätig war. Höppner schickte, so zeigt es ein Dokument im dritten Band der Edition, seinem „lieben Kameraden Eichmann“ bereits im Juli 1941 Vorschläge zur technischen Umsetzung des Judenmords. Es sei doch die „humanste Lösung“, wie Höppner schrieb, „die Juden durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen“. Und noch ein drittes Beispiel: General Erich von Manstein, bis 1960 Berater der Bundesregierung beim Aufbau der Bundeswehr, schrieb am 20. November 1941 in einem Tagesbefehl an die Soldaten der 11. Armee: „Das Judentum bildet den Mittelsmann zwischen dem Feind im Rücken und der roten Führung. Das jüdisch-bolschewistische System muss ein für alle Mal ausgerottet werden. Für die Notwendigkeit der harten Sühne am Judentum, dem geistigen Träger des bolschewistischen Terrors, muss der Soldat Verständnis aufbringen.“ Speer, Höppner und Manstein — diese Namen stehen hier nur stellvertretend für viele NS-Verbrecher, die in den frühen siebziger Jahren wieder oder noch unbehelligt in Deutschland lebten, die von den rechtskonservativen Teilen der Öffentlichkeit verehrt oder doch zumindest wohlwollend respektiert wurden. Der Historiker Joseph Wulfhatte also gute Gründe, an der Wirksamkeit historischer Aufklärung zu zweifeln. Heute wäre Wults Bilanz nicht ganz so negativ ausgefallen. Der Auschwitz-Überlebende hätte registriert, dass sein großer Traum, die Errichtung eines Dokumentationszentrums in jener Villa, in der vor 81 Jahren die Wannseekonferenz stattfand, verwirklicht wurde. Er hätte festgestellt, dass die deutsche Justiz jetzt, nach Jahrzehnten, in denen viel versäumt worden war, die letzten noch lebenden Helfershelfer des Holocaust vor Gericht stellt. Und er hätte auch beobachtet, dass es zumindest in der veröffentlichten Meinung eine breite Zustimmung zur Politik der Erinnerung gibt. Davon konnte in den frühen 70er Jahren noch keine Rede sein. Inzwischen gehört es zum politischen Konsens aller Bundestagsparteien mit Ausnahme der AfD, die Erinnerung an den Holocaust und den Kampf gegen das Vergessen zu fördern. Den weitesten Weg haben hier die Unionsparteien CDU und CSU zurückgelegt, die nun zuweilen entschiedener auftreten, als es Grüne und Sozialdemokraten tun. Die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft fließen in die Reden ein, die Politikerinnen und Politiker bei Gedenkveranstaltungen halten, kaum noch jemand nimmt Rücksicht auf die braune Ursuppe, aus der sich manche Stimme für die AfD speist, eher im Gegenteil. Historiker und Historikerinnen können davon ausgehen, dass ihre Arbeit nicht ungehört und ungelesen bleibt. Und dennoch existiert unter den Anhängern und Mitgliedern aller Parteien ein Bodensatz an antisemitischem Denken, der offenbar von historischer Erkenntnis unberührt bleibt. Auf der Rechten sind es die Stimmen der Revisionisten, die den Holocaust relativieren und ganz schnell vergessen wollen, auf der Linken die Amerikafeinde und Israel-Boykotteure, die ihren Antisemitismus als Anti-Zionismus maskieren. Besonders deutlich zeigte sich diese linke antisemitische Unterströmung im vergangenen Jahr aufder Kasseler „documenta“. Obwohl das Künstlerkollektiv „Ruangrupa“ eine Reihe von antisemitischen Werken präsentiert hatte, war die linksliberale Öffentlichkeit nicht