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zu einer eindeutigen Ablehnung bereit: Vielmehr wurde darüber gestritten, ob man den Vertretern des Südens das Recht auf ihre eigene Version des Antisemitismus zubilligen müsse, so, als ob indonesischer Antisemitismus weniger schlimm wäre als europäischer. Das kategorische Nein zu jeder Form des Judenhasses bröckelte hier sichtbar. Die „documenta“ war ein Dammbruch. Zuweilen findet sich gerade im linksliberalen Milieu, und hier insbesondere in den Medien, eine merkwürdige Bewusstseinsspaltung. Einerseits werden die Erinnerungen der Überlebenden des Holocaust wieder und wieder zitiert, man zelebriert Gedenktage und die Jubiläen der Befreiung aus den Lagern. Andererseits empfinden viele Journalistinnen und Journalisten das Ritual, so zumindest mein Eindruck, zugleich als Freibrief für eine umso heftigere Kritik an jüdischen Institutionen, am Staat Israel und an dessen angebliche Apartheid-Politik. Die Erinnerung hat hier also eine enthemmende Funktion. Auch die Berliner Polizei, um einen aktuellen Fall zu nennen, störte sich nicht an den israelfeindlichen Parolen, die bei einer Demo in Neukölln am Ostersamstag gebrüllt wurden. „Tod den Juden“ skandierten etwa 500 zumeist arabisch- oder türkischstämmige Demonstranten laut und deutlich; 250 Polizisten sorgten währenddessen für den „störungsfreien“ Verlauf, wie es danach hieß. Dass man die Demonstration sofort hätte auflösen müssen, kam der Polizeiführung erst in den Sinn, als die Veranstaltung schon beendet war. Die wachsende Unempfindlichkeit für den grassierenden Judenhass ist verstörend, gerade in Anbetracht der Anstrengungen, die die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten unternommen hat. Fast hat es den Anschein, als teilten sich die Zeitgenossen inzwischen in zwei getrennte Parallelwelten auf, in die Sphäre der öffentlichen Stimmen aus Wissenschaft und Politik, die bei Jahrestagen und anderen Anlässen viel Empathie für die Opfer des Holocaust bekunden, und andererseits in die Welt der vielen, vielen Menschen, die den Antisemitismus für eine lässliche Sünde halten, wenn sie ihn denn überhaupt ablehnen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Entfremdung eines erheblichen Teils der Deutschen von den Institutionen und Repräsentanten ihrer Demokratie. Sie hat zur Folge, dass auch die Distanz zur Kultur des Gedenkens immer offener zu Tage tritt. Sichtbar wird das nicht nur bei AfD-Kundgebungen und Pegida-Aufmärschen oder bei Corona-Leugnern, die mit Neonazis gemeinsame Sache machen und Judensterne tragen, auf denen „ungeimpft“ steht. Sichtbar wird es auch an der zurückgehenden Zahl von Einzelbesuchen in den KZ-Gedenkstätten, zumeist kommen nur noch Schulklassen — und die selten freiwillig. In Hamburg wurde 2021 sogar still und heimlich ein Stolperstein von Anwohnern aus dem Fußweg entfernt, weil man sich durch das Gedenken offenbar gestört fühlte. Ob man all diese Menschen mit wissenschaftlicher Erkenntnis erreicht, darf bezweifelt werden. Aber es wäre schon viel gewonnen, wenn es gelänge, den Kreis der Ansprechbaren nicht kleiner werden zu lassen, wenn Historiker und Historikerinnen mit ihren Publikationen, mit Vorträgen und persönlichem Engagement gegen das Vergessen anträten. Selbst unter Wissenschaftlern finden sich nämlich Gegner des Gedenkens. Der Historiker Wolfgang Reinhard etwa bekam mit seiner Attacke auf die Erinnerungskultur, im vergangenen Jahr in der FAZ veröffentlicht, viel Beifall in den Leserbriefspalten. Reinhard behauptete, die Deutschen seien von einer „HolocaustObsession“ besessen, „Amerikas Juden“, so schrieb er, hätten ihnen eine „Erinnerungskultur jüdischer Art“ oktroyiert, es brauche endlich eine — ich zitiere —- „Entemotionalisierung und Normalisierung“ des Holocaust-Gedenkens. Ein typisch antisemitisches Narrativ, die jüdische Weltverschwörung als Treiber der Erinnerungskultur. Deutlicher hätte man den Wunsch, endlich einen Schlussstrich zu ziehen, nicht vortragen können. Beruhigend ist allenfalls die Tatsache, dass solche Forderungen seit Jahrzehnten vorgetragen werden; man denke nur an Martin Walsers Klage über die „Dauerrepräsentation unserer Schande“ in den Medien aus dem Jahr 1998. Noch haben Vorstöße dieser Art keinen durchschlagenden Erfolg. Gefahrlicher fiir die Gedenkkultur konnte dagegen der Vorwurf aus dem identitatspolitischen Lager sein, die Deutschen wiirden mit dem weitgehend ritualisierten Gedenken an den Holocaust ihre Kolonialverbrechen bewusst verdecken und zugleich verdrängen, dass diese Verbrechen ein Vorbild des Judenmords gewesen seien. Gefahrlicher nicht deswegen, weil ich dieses Argument fiir richtig halte, sondern weil es von einer jungen Generation von Intellektuellen vorgetragen wird, die in den kommenden Jahren eher noch an Einfluss gewinnen wird. Viele der identitatspolitischen Akteure haben einen Migrationshintergrund und sehen sich schon deswegen nicht als Teil der deutschen Erinnerungskultur. Im Ergebnis zielt ihre Argumentation darauf, den Holocaust in seiner Bedeutung zu relativieren. Natiirlich wirken hier auch die Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie. Wer wahrgenommen werden will, diskreditiert gern mal die Konkurrenz. Und im Übrigen: Wenn die Erinnerung an den Holocaust wirklich die Kolonialgeschichte verdrängen würde, dann müsste das in jenen europäischen Ländern, die nicht oder sehr viel weniger Verantwortung für den Judenmord tragen, ganz anders sein. Das aber ist nicht der Fall. Auch in Frankreich, Belgien, Großbritannien oder in den Niederlanden werden die Sünden der kolonialen Vergangenheit erst seit einigen Jahren systematisch aufgearbeitet. Dabei lohnt sich ein weiterer Blick in die Edition. Die Anhänger der Ihese, es gebe eine direkte Traditionslinie von der Ermordung Zehntausender Herero und Nama in Namibia bis zum millionenfachen Judenmord in Auschwitz und andernorts, berufen sich häufig aufden Rassenbiologen Eugen Fischer, der 1908 in DeutschSüdwest-Afrika geforscht hatte. Fischer untersuchte damals die Beziehungen zwischen weißen Farmern und Nama-Frauen und warnte in seiner Studie vor einer, ich zitiere, „Rassenmischung“, da „jeder Tropfen Blut von farbigen Rassen, der in unserm Volkskörper Aufnahme findet, uns unheilbar schädigt“. Das klingt zweifellos nach dem Tenor der Nürnberger Gesetze. Tatsächlich wurden die Heiratsverbote zwischen Juden und Nichtjuden 1935 auch mit Verweis auf Fischers Darstellung begründet, wie ein Dokument aus dem Reichsinnenministerium im ersten Band der Edition belegt. Es gibt sie also, diese Verbindung zwischen dem Rassismus der Kolonialisten und dem der Nationalsozialisten. Fischer wird auch noch in weiteren Dokumenten zitiert, etwa im zweiten Band der Edition in einem Bericht der Frankfurter Zeitung über die Erforschung der sogenannten „Judenfrage“. Aber in keiner Zeile findet sich auch nur eine Andeutung, dass Eugen Fischer einer Auslöschung anderer Völker das Wort geredet hätte. In keiner Zeile. Der Weg führt tatsächlich von Namibia nach Nürnberg. Aber den Weg von Nürnberg nach Auschwitz haben die Nationalsozialisten ganz allein beschritten. SEPTEMBER 2023 23