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Max Adler schrieb am Ende seines umfangreichen Aufsatzes „Über den kritischen Begriff der Religion“: Die Religion als gedankentötender Aberglaube stirbt, aber die Religion als lebendige Weltauffassung, als philosophischer Glaube wird erst geboren. |...] In dieser Einsicht von dem Wesen der Religion und ihrer daraus sich ergebenden thematischen Einheit mit der Philosophie und nicht in der Wissenschaft allein gewinnen wir die eigentliche Grundlage für den großen Kulturkampf, der noch durchgekämpft werden muß: für den Kampf um die Emanzipation der Massen aus den Fesseln der dogmatischen Religion und kirchlichen Gewalten.”“ 1903 erhielt Jerusalem auch eine Venia für Pädagogik. Aber erst 1920 wurde er außerordentlicher und 1923, wenige Wochen vor seinem Tod, ordentlicher Professor an der Universität. Sein Leben wurde damit zum exemplarischen Beispiel für die Diskriminierung eines jüdischen Gelehrten. Das Neue Wiener Tagblatt schrieb darüber in einem ungezeichneten Artikel: Es war interessant: Dreifßig Jahre mufste dieser bescheidene Gelehrte warten, bis man ihn vom Dozenten zum außerordentlichen Professor machte, und nie spielte er den Gekränkten. Dabei waren seine Lehrbücher in alle europäischen Sprachen übersetzt [...] Dabei waren seine Wiener Vorlesungen die stärkstbesuchten an der Fakultät. 400 bis 500 Hörer, die da saßen, das war das Normale. Alle Nationalitäten, alle politischen Richtungen und Weltanschauungen vereinigten sich in den Bänken zu Füßen Jerusalems.” Im Jüdischen Lexikon schrieb Leon Julius Silberstrom, ein Chemiker aus Lodz: J. nahm einen hervorragenden Platz unter den modernen Philosophen ein. Er war ein Anhänger des kritischen Realismus in der Philosophie und suchte die Erkenntnistheorie auf psychologischer und soziologischer Grundlage aufzubauen.° In seiner philosophischen Selbstdarstellung formulierte Jerusalem: Philosophie ist für mich nicht ein fertiges in sich geschlossenes System von Erkenntnissen, sondern immer weiter fortgesetzte Denkarbeit, die auf das ganze der Welt und vor allem auf das Ganze des Menschenlebens gerichtet ist.” 1907 übersetzte Jerusalem das Buch von William James Der Pragmatismus ins Deutsche. 1908 hielt er auf dem internationalen Philosophenkongress in Heidelberg einen Vortrag über den Pragmatismus. Im Vorwort zur Neuausgabe nannte der Philosoph Klaus Ochler Jerusalem einen „großen Unzeitgemäßen der Philosophie“. Ludwig Nagl schrieb zu dieser Ihese, dass die Unzeitgemäßheit Jerusalems darin liege, „dass er James pragmatische Denkstrategie affirmiert: Jerusalem war nicht nur ein empirisch orientierter Wissenschaftsphilosoph und -soziologe (der er zweifellos auch war); er war überdies ganz im Sinne von James dauerhaft und ohne Apologie am Ihema Religion interessiert. “”® In der Einleitung in die Philosophie schrieb Jerusalem: Philosophie ist die Denkarbeit, welche in der Absicht unternommen wird, die tägliche Lebenserfahrung und die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung zu einer einheitlichen und widerspruchslosen Weltanschauung zu vereinigen, die geeignet ist, die Bedürfnisse des Verstandes und die Forderung des Gemütes zu befriedigen.” Im Kapitel über Ethik definierte er die jüdische Ethik „in kurzer Zusammenfassung die Gottesliebe und die Menschenliebe“. Das Christentum beschrieb er als „sittliche Läuterung des Judentums“; die katholische Kirche als bewundernswerte Organisation“. Im Abschnitt über die Soziologie definierte er diese als „die Philosophie der menschlichen Gesellschaft.“ Der junge Jürgen Habermas fand Die Einleitung in die Philoso‚phie unter den Büchern seines Vaters und stieß in ihr zum ersten Mal auf den Begriff Pragmatismus.*! Als die Aufgabe des 20.Jahrhunderts sah Jerusalem „die Synthese von Sozialismus und Individualismus, die Vereinigung von Menschenpflicht und Menschenwürde möglich zu machen.“ In der letzten Auflage der Einleitung in die Philosophie beschrieb er den Ersten Weltkrieg, ohne dieses Wort zu benutzen, als „furchtbare Weltkatastrophe“, die „auch in moralischer Hinsicht geradezu verheerend gewirkt“ hat. Als Antwort darauf formulierte er die Hoffnung auf ein entstehendes Bewußtsein der Staatenwürde und der Völkerwürde, und die Forderung nach einem Staaten- und Vélkerbund.*? Jerusalem hatte bereits 1915 in dem Buch Der Krieg im Lichte der Gesellschafislehre diese Gedanken entwickelt. Dort konnte er dem Krieg auch positive Aspekte abgewinnen. Er hob die „stark sozialisierende Wirkung des Krieges“ hervor und hielt fest: „Er macht aber auch das Ganze in der Seele jedes einzelnen lebendig, gibt der Seele dadurch einen neuen Schwung, dem Leben Einheitlichkeit und einen neuen Mittelpunkt.“ Er sei überzeugt, „dass diese sozialisierende Tendenz des Krieges in Deutschland und in Oesterreich auch für spätere Zeiten bedeutsam bleiben [...].“ Über den Verlust an Menschenleben im Krieg schrieb er: Dieser „ist um so unersetzlicher, als es ja gerade die Blühendsten und die Kräftigsten sind, die dahingerafft wurden. [...] Die Kulturleistungen der Hingeopferten, um die uns der Krieg betrogen, sind weder zu berechnen, noch abzuschätzen.“* 1918 ließ Jerusalem die Schrift Moralische Richtlinien nach dem Kriege folgen. Mit vorsichtigen Formulierungen, die offen lassen, ob dies auch seine eigene Überzeugung war, schrieb er: Die erlesensten Geister des deutschen Volkes haben die Forderung der Humanität mit leuchtender Klarheit und mit flammender Seele verkündet. Was Kant und Herder, was Schiller, Goethe und Wilhelm von Humboldt so tief in die Seele des deutschen Volkes hineingepflanzt haben, das kann auch durch einen noch so gewaltigen Weltkrieg nicht mit der Wurzel ausgerottet werden.” Über den Völkerbund führte er aus: Diese Organisation durchzuführen und einen die ganze Menschheit umfassenden Völkerbund zu schaffen, das ist die große wirtschaftliche, kulturelle und vor allem die sittliche Aufgabe der neu entstehenden, sich selbst bestimmenden, demokratisch ausgestalteten Völker und Staaten, die uns der Weltkrieg hinterlassen wird. [...] Die wichtigste unter allen moralischen Richtlinien nach dem Kriege ist und bleibt demnach, die Verpflichtung des großen Völkerbundes mitzuarbeiten, denn nur dieser ist imstande, die Menschheit zu dauernder friedlicher Arbeit zu vereinigen.’ Jerusalem arbeitete zuletzt an einer Einführung in die Soziologie, die posthum 1926 publiziert wurde. In der Encyclopaedia Judaica beschrieb J.He. (Josef Heller, Berlin) die jüdische Wurzel von Jerusalems Philosophie: „Seine kritisch-realistische Metaphysik gipfelt in einem in der Lehre des Judentums wurzelnden ’ethischen Monotheismus’.“** Diese jüdische Prägung seiner Philosophie führte auch Jerusalem selbst 1922 in seinem Beitrag zu dem Band Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen aus: „Meine Eltern waren fromme Juden und meine Mutter pflegte zu sagen: "Wer für die Religion kein Opfer bringt, der bringt überhaupt keines.’ Die jüdischen Speisegesetze wurden streng befolgt und die religiösen Feste freudig und feierlich begangen.“ Im Haus von Rabbiner Abraham Kauders trat ihm SEPTEMBER 2023 31