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der ethische Monotheismus der Propheten, die glühende Gottesliebe in den Psalmen und im Buche Hiob in der vollen Lebendigkeit der Ursprache entgegen und schlug tiefe Wurzeln in meine Seele. Ich fand in dem von allen Anthropomorphismen gereinigten Gottesbegriff, wie er mir später bei Philo und bei den jüdischen Religionsphilosophen des Mittelalters entgegentrat, dann in der bei den Propheten und in manchen Psalmen (bes. Ps. 15) so lebendig betonten Einheit von Religion und Sittlichkeit, ganz besonders aber in der dem Leben zugekehrten Denk- und Willensrichtung, die das ganze jüdische Schrifttum durchzieht, sowie auch in der großen Wertschätzung des Wissens, die in den Sprüchen der Väter’ so wirksam zum Ausdruck kommt, die Grundlagen zu einer Verstand und Gemüt in gleicher Weise befriedigenden Welt- und Lebensanschauung gegeben. Das so aufgefaßte und in diesem Sinne geläuterte Judentum ist für mich eine Summe religiöser und sittlicher Überzeugungen, die mit keiner wissenschaftlich erwiesenen Tatsache in Widerspruch stehen, kein sacrifizio dell’intelletto verlangen und zur Ausstellung einer zweifachen Wahrheit keinen Anlaß geben. In diesem Punkte habe ich mich mit Hermann Cohen nahe verwandt gefühlt, obwohl ich seinen philosophischen Apriorismus mit aller Entschiedenheit bekämpfen mufte.”? Von 1894 bis 1902 unterrichtete Jerusalem die Facher Deutsch und Pädagogik auch an der Israelitisch Theologischen Lehranstalt.” 1912 wurde er Mitglied des Kuratoriums des Jüdischen Museums in Wien unter dem Präsidenten Adam Politzer.*' 1907 trat Jerusalem der B’nai B’rith Loge „Wien“ bei, der seine beiden Brüder Bernhard und Josef bereits seit 1895 angehörten. Er hielt in der Loge zahlreiche Vorträge und stellte in ihr auch Adolf Böhms Geschichte des Zionismus vor. 1911 war Jerusalem im Rahmen der Loge „Wien“ Initiator und einer der Gründer des Jüdischen Jugendbundes. Er wurde zum Ehrenpräsidenten des Bundes gewählt und hielt aus Anlass der Gründung eine Ansprache über den „Kulturwert des Judentums“, in der er ausführte: Das Judentum ist vor allem spiritualistischer Monotheismus. [...] Das Judentum ist aber nicht nur spiritualistischer, es ist auch ethischer Monotheismus. [...] Das Judentum hat in den zehn Geboten der Menschheit den ersten Moralkodex gegeben, der bis auf den heutigen Tag grundlegend geblieben ist. Wir haben der Welt auch das Buch der Bücher, die Bibel gegeben, die sich die anderen Völker allerdings so sehr angeeignet haben, daß man sie nicht mehr als unser will gelten lassen. Wir haben daher die Aufgabe, uns dieses Buch wieder zu erobern und der Welt zu zeigen, daß wir es doch besser verstehen und richtiger würdigen. Unsere Religion hat der Kulturwelt den Sabbat gegeben und damit eine Tat vollbracht, deren Tragweite gar nicht genug gewürdigt werden kann. Ein Ruhetag in der Woche bedeutet Erholung, Mufse, Regenerationszeit für ungezählte Millionen und hat die Glücksmöglichkeiten in der Welt in geradezu unermeßlicher Weise gesteigert. [...] Diese Kulturleistungen beweisen, daß die Juden immer dort zu finden sind, wo es sich um die Förderung des menschlichen Fortschrittes handelt.“ 1916 wurde Jerusalem zum Präsidenten der Loge „Wien“ gewählt.“ 1920 verfasste er die Festschrift zu deren 25jährigen Jubiläum, in der er schrieb: „Der Verfasser dieser Zeilen hat zu Beginn seiner Präsidentschaft das Ziel der Logentätigkeit in die zwei Worte zusammengefaßt: ’Ethisieren und Judaisieren’“.“ 1917 war Jerusalem mit Adolf Böhm, Anitta Müller-Cohen und Adolf Stand Mitglied des Kuratoriums der jüdisch-pädagogischen Kurse im Rahmen des Jüdischen Nationalrats. In diesen Kursen unterrichtete er Allgemeine Unterrichtslehre und Aufgaben des Erziehers.*° 32 _ ZWISCHENWELT 1918 engagierte sich Jerusalem neben Julius Ofner auch als Vorstandsmitglied des von Anitta Müller-Cohen gegründeten Vereins „Soziale Hilfsgemeinschaft Anitta Müller.“ Weiters war Jerusalem Mitglied des wissenschaftlichen Komitees zur Herausgabe der Jüdischen National Biographie Salomon Winingers.*” Noch in den letzten Lebensjahren vertiefte sich Jerusalems jiidisches Interesse. Zu seinem 60. Geburtstag wiinschte er sich eine Talmudausgabe.“* Auch der Bibliothekar der IKG Ernst Müller bezeugte diese ausgeprägten jüdischen Interessen Jerusalems: „Namentlich in seinen späteren Jahren kehrte er mit der ihm eigenen Begeisterung zur Lektüre des biblischen Schrifttums zurück und beschäftigte sich besonders gerne auch mit den Grundgedanken der jüdischen Religionsphilosophie.“” Der Historiker Adolf Bohm beschrieb in diesem Lebensabschnitt Jerusalems dessen Beziehung zum Zionismus: War Professor Jerusalem auch infolge der in seiner Jugend genossenen Erziehung ein genauer Kenner des hebräischen Schrifitums und ein für die religiös-sittlichen Ideen des Judentums begeisterter Mann, so stand er, weil in der Periode des Liberalismus aufgewachsen, dennoch der zionistischen Bewegung ablehnend oder, besser gesagt, fremd gegenüber. In den Jahren des Krieges änderte sich aber seine Auffassung. Das Wiederaufleben der hebräischen Sprache, die er kannte, war für ihn ein frohes Erlebnis. Er nahm seine Talmudstudien wieder auf und suchte sich auch in Bialik einzuleben. Das lebendige Werden in Palästina verfehlte nicht, auf ihn einen mächtigen Eindruck zu machen, ebenso erfreute ihn die aufkommende moderne Literatur über den Geist des Judentums. Namentlich Achad Haam und Buber fanden sein Interesse und seine Zustimmung. [...] Obzwar er sich der zionistischen Bewegung nicht offiziell anschließen wollte und konnte, war er dennoch mit den lebendigen Kräften, die sie entfesselt hatte, in inniger Berührung. Der Aufbau Palästinas wurde von ihm freudig bejaht [...]. In manchen Gesprächen war es mir vergönnt, mich mit ihm über die Elemente der jüdischen Renaissance zu unterhalten. Es zeigte sich dabei, welch’ immenses jüdisches Wissen er besaß und wie das Judentum das lebendige Zentrum seines Fühlens war. [...] Zu früh, auch für die neujüdische Bewegung, ist Professor Jerusalem heimgegangen. Er wäre sicher bereit gewesen, dereinst einem Ruf an die Jerusalemer Universität zu folgen. In ihm ist uns einer jener seltenen Männer verloren gegangen, die in ihrer Jugend noch eine gründliche jüdische Bildung genossen hatten, später als Mehrer der europäischen Wissenschaft gewirkt haben — jahrzehntelang eingesponnen in den liberalen Gedanken -, sich aber trotzdem soviel Jugendlichkeit bewahrt haben, um noch in vorgerückten Jahren den Anschluß an die lebendige neujüdische Bewegung finden zu können.’ Noch in den letzten Tagen seines Lebens las Jerusalem Max Brods Buch Judentum, Heidentum, Christentum, über das er eine Rezension schreiben wollte.” Wilhelm Jerusalem starb 1923 im Alter von 67 Jahren nach einem Schlaganfall.°” Katharina Jerusalem starb 1932. Der damalige Wiener Oberrabbiner David Feuchtwang, einst Jerusalems Schüler in Nikolsburg und der Sohn seines Freundes Rabbiner Meir Feuchtwang, beschrieb in zwei Nachrufen die enge Freundschaft und Verbundenheit mit dem Verstorbenen: Auf dem wundervoll durchgeistigten Antlitz konnte man Gedankentiefe und Güte lesen. /...] Sein Judentum schlug überall in seinen gelehrten Werken und Vorträgen hervor. |...] Jerusalem war ein