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unerschütterlich treuer und mutiger Jude, der mit edelstem Eifer für sein Volk und dessen höchste Güter eintrat und die moderne Wiedergeburt von ganzem Herzen innerlich miterlebte. [...] Jerusalem ging aus kleiner, echt jüdischer Gemeinde hervor, lernte in früher Jugend Bibel und Talmud, war Schüler jüdischer Gelehrter und bewahrte deren Traditionen mit Liebe bis an sein Ende; verfügte er doch letztwillig, nach altjüdischer Weise bestattet zu werden [...] er war eine Zierde des Judentums, der Wissenschaft und der Menschheit. — Unvergefßlich ist auch uns Schülern diese Zeit, die herrlichen, beglückenden Stunden, ob er nun deutsche Literatur, klassische Philologie oder philosophische Propädeutik vortrug. [...] Er war die verkörperte Ethik. [...] Was er gelehrt hat, hat er gelebt. |...] Sein Leben war das eines Weisen und wirkte aus diesem Grunde läuternd und erziehend bei allen seinen Schülern, deren es Tausende gibt. [...] Seine Soziologie ist eine wahrhaftige Lehre tiefster Humanität und Religion. Sie fordert Menschenwürde, Staatenwürde, Völkerwürde. Sie nähert sich dem Ideale, das die jüdischen Propheten gepredigt haben, die Jerusalem so innig verehrte. [...] Jerusalem war einer der edelsten Bewohner Wiens, ein überzeugungstreuer, begeisterter Jude, ein Mensch von höchstem Seelen- und Geistesadel.’? Max Adler rühmte Jerusalem in seinem Nachrufals einen wahrhaften Lehrer der Weltweisheit, einen beredten Verkünder einer Menschheitskultur, der einen „Geist tiefer, auf umfassendem Wissen gegründeter Menschlichkeit“ vertrat.’* Moritz Schlick schrieb zu Jerusalems fünften Todestag; „Durch die gesunde Frische seines Philosophierens, die niemals an starren toten Formeln sich genügen ließ, hat Jerusalem auf die studierende Jugend einen vortrefllichen Einfluß ausgeübt, und dies auch dort, wo etwa der Inhalt seiner Gedanken schon überholt war oder nicht die letzte Tiefe erreichte,“ Sein Leben nannte er „entsagungsvoll und von rührender Schlichtheit“ und erinnerte an die „Wärme, mit der seine Schüler und Nachkommen des gütigen Mannes gedenken.“ 1925 gaben die Söhne Edmund und Erwin Jerusalem einen zweiten Band von Jerusalems gesammelten Aufsätzen mit dem Titel Gedanken und Denker heraus. Das Buch muss bereits 1924 vorgelegen sein, denn Leon Kellner rezensierte es in diesem Jahr in der Neuen Freien Presse: „Sein allseitiges Wissen überraschte immer von neuem. Er war in den alten Kultursprachen (Hebräisch, Griechisch, Lateinisch) zuhause und las Französisch, Italienisch, Englisch ohne Mühe. Er war in den Naturwissenschaften gut geschult und folgte jeder Kulturbewegung mit tiefster Teilnahme. “”° 1933 erinnerte Josef Lemberger in der Wahrheit an Jerusalem: Fr „liebte das Judentum [...]. Seine hohe Persönlichkeit als Lehrer und Erzieher war von reinstem jüdischen Geist erfüllt.“ 1935 veröffentlichte sein Schüler Walther Eckstein ein Buch über Jerusalems Leben und Wirken. 1954, 100 Jahre nach Jerusalems Geburt, wurde in Floridsdorf eine Gasse nach ihm benannt. Akos Löw würdigte Jerusalem aus diesem Anlass in der Zeitschrift Das jüdische Echo® Im Mitteilungsblatt des Irgun Olej Merkas Europa in Tel Aviv erinnerte der exilierte Philosoph Otto Spear an Jerusalem.” 2016 und 2020 brachte der Kärntner Autor und Regisseur Herbert Gantschacher zwei Stücke über Wilhelm Jerusalem und Helen Keller in Gebärdensprache in Villach und Wien auf die Bühne. In einem der Begleithefte veröffentlichte er den Briefwechsel zwischen Jerusalem und Keller. Das Ehepaar Jerusalem hatte fünf Kinder. Zwei Töchter, Lilli und Flora, starben mit 18 Jahren, Lilli nach einem Unfall, Flora durch eigene Hand nach einer unglücklichen Liebe.‘' Eine dritte Tochter, Irene Jerusalem, unterrichtete Deutsch und Französisch am Hietzinger Mädchengymnasium in der Wentzgasse. 1941 wurde sie in das Ghetto Lodz deportiert; die Umstände ihres Todes sind nicht bekannt. 2006 wurde in Speising ein Weg nach ihr benannt. Ihr Sohn Erwin Jerusalem war Oberlandesgerichtsrat in Wien; er wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Ihr ältester Sohn Edmund Jerusalem unterrichtete Deutsch und Geschichte an einer Wiener Handelsakademie und arbeitete zugleich für die Versicherungsanstalten Phönix und Agrippina. 1910 heiratete er Anna Kassowitz, die Tochter des Kinderarztes Max Kassowitz, dem zeitweiligen Vorgesetzen von Sigmund Freud. Annas Mutter Julie, geborene Rosenthal, war Gründerin des Vereins abstinenter Frauen in Wien. Ihre Schwester Toni Stolper war mit dem Ökonomen Gustav Stolper verheiratet und eine enge Freundin des ersten deutschen Bundespräsidenten Theodor Heuss. In der Familie Kassowitz galt laut Anna Jerusalem: „Assimilation ohne Taufe war möglich und das Ideal.“ Sie schrieb über die jüdische Atmosphäre des Hauses, in das sie einheiratete: „Auch im Hause Jerusalem gab es keine Kashrut, man ging an den jüdischen Festen zur Schule, aber ein tiefes Wissen der heiligen Bücher war vorhanden und der Wunsch immer mehr einzudringen.““* Dreieinhalb Jahre lang diente Edmund Jerusalem im Ersten Weltkrieg, vor allem in Dalmatien. Seine vielen Briefe an Anna haben sich erhalten und sind heute im Archiv der IKG Wien. Die fünf Kinder des Paares waren Mitglieder der jüdischen Jugendbewegung Blau-Weiß ihr Vater wurde 1919 Vorsitzender ihres Elternrats.° 1925 unternahmen Edmund und Anna Jerusalem anläßlich der Eröffnung der Hebräischen Universität eine fünfwöchige Reise nach Palästina.“ Im gleichen Jahr veröffentlichte Edmund Jerusalem eine Bibliographie der Schriften seines Vaters, die von dessen Freund Bernhard Wachstein angeregt wurde. 1935 wurde er einer der Gründer und ehrenamtlicher Sekretär der österreichischen Gesellschaft der Freunde der Hebräischen Universität. Er war auch Mitglied und zeitweise Präsident der Bhnai Brith Loge „Wahrheit“ und Mitglied des Herzi-Klubs.” Zeit seines Lebens war er befreundet mit dem österreichischen sozialdemokratischen Politiker und Historiker Julius Braunthal. 1939 emigrierte Edmund Jerusalem im Alter von 60 Jahren nach Palästina, wo er unter anderen als Redakteur des historischen Teils der hebräischen Enzyklopädie arbeitete. Auch die fünf Kinder wanderten nach Palästina aus. Seine älteste Tochter Lili Klein dissertierte 1934 über Gertrude Bell; sie arbeitete als Sekretärin für den Philosophen Schmuel Hugo Bergman und für den amerikanischen Reformrabbiner Judah Leon Magnes, den ersten Rektor der Hebräischen Universität, und lebte später bis zu ihrem Tod im Kibbuz Givat Chaim. Lili Klein Jerusalem veröffentlichte 2002 ihre hebraischsprachigen Erinnerungen.® Anmerkungen 1 Wilhelm Jerusalem: Meine Wege und Ziele. In: Ders.: Gedanken und Denker. Neue Folge. Hg. von Edmund und Erwin Jerusalem. Wien: Braumüller 1925, S.11f. (Ungekürzte Fassung von Wilhelm Jerusalem: Selbstdarstellung. In: Raymund Schmidt (Hg.): Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Leipzig: Meiner 1922, S.53-98. 2 Edmund Jerusalem: Lebenserinnerungen, $.9. (ME 907, Leo Baeck Institute New York). SEPTEMBER 2023 33