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Eine deutsche Wohnung — geräumig, mit hoher Decke. Die Einrichtungsgegenstände passten allerdings nicht zu dem sauberen und dezenten Weiß der Wände, ja die ganze Einrichtung wirkte irgendwie auf eine seltsame Weise unpassend. Die plumpe, grüne Möbelgarnitur harmonierte nicht mit dem rautenförmigen, fast gotisch anmutenden Spiegel von erschreckenden Ausmaßen. Der steife, schäbige Teppich war aus der ehemaligen Küche ausgewandert und irgendwie im Flur gelandet. Eine moderne Lampe verhöhnte den alten Parkettboden. Der Rest der Wohnung wurde von IKEA beherrscht. Es gab auch Gemälde. Eine Kleckserei in Nachahmung von Renoir - ein lauer Sommertag mit verwischten, fließenden Figuren sonderbar gekleideter Frauen; Schiffe im Meer a la Aiwasowskij’; vier Katzenfotos, das Foto eines Pferdes und das eines Sonnenuntergangs über einem buckligen Schatten — wie aus einem Werbeprospekt, wahrscheinlich irgendwo in Italien aufgenommen. „Komm rein“, sagte Alexander Iwanowitsch. “Du warst schon lange nicht mehr bei uns. Hattest du viel zu tun?“, fragte er mich. „Ja, das eine oder andere”, murmelte ich leise, fast so, als spräche ich nur zu mir selbst. Der Tisch war gedeckt: Snacks, Cognac ... Eine Rauchpause. Und dann sollte es losgehen. Jeder hatte viel auf dem Herzen. Worte, die noch hinter dem Damm gehalten wurden. Alle warteten auf die Erlaubnis! „Ich verstehe euch nicht. Was verpassen wir denn schon, wenn wir nicht dort sind? Die Straßen sind kaputt, die Wohnungen und Versorgungseinrichtungen liegen in Trümmern, die Polizisten sind korrupt und die Politiker sind Diebe. Ich denke, euer Zuhause ist dort, wo eure Familie ist.” Mit dieser einführenden Rede traf Alexander Iwanowitsch den Kern der Sache, aber mit einem freundlichen Lächeln beschloss er, seine scharfen Worte etwas abzumildern. Das Leben von Alexander Iwanowitsch Ripenko war nicht einfach gewesen. Er hatte sich im Leben nach oben gekämpft, so gut er konnte. Doch nach einigen missglückten Investitionen verkaufte er alles, was er noch besaß, und beschloss, fortan irgendein unkompliziertes Geschäft in Deutschland zu betreiben und dort den Rest seiner Tage in Ruhe zu verbringen. Auch das klappte nicht. Er war etwas füllig und hatte ein offenes, ein wenig einfältig wirkendes Gesicht. „Ja und. Was tust du hier eigentlich?, frage ich dich. Hier, in diesem verstaubten deutschen Loch. Wer braucht dich hier schon?“ platzte es aus Chariton Andrejewitsch mit nervöser Bestimmtheit heraus. Chariton Andrejewitsch hatte gerade Probleme mit seiner Schwiegermutter. Das Thema Deutschland kam ihm daher gerade recht, um sich abzureagieren. Zu lastern gab es genug. Chariton Andrejewitsch mochte die Dinge klar und einfach. Alles, was kompliziert ist, entwirrt sich schließlich von selbst und wird einfach — dachte er. Dass Schwierigkeiten aus Dummheit und der Unentschlossenheit, alles an seinen richtigen Platz zu rücken, entstehen — daran glaubte er blind. Chariton Andrejewitsch Lesnoj, ein Mann etwa Mitte fünfzig, füllig, mit einer schon deutlich sichtbaren Glatze, war aus familiären Gründen in Deutschland. Seine Schwiegermutter war erkrankt, und seine Frau hatte beschlossen, dass es besser sei, die Behandlung deutschen Ärzten anzuvertrauen. Diese dauerte nun viel länger als erwartet. „Fangen Sie schon wieder davon an ...“ Alexander Iwanowitsch wirkte niedergeschlagen und versuchte, irgendwie Trost zu finden. Charitons trockene Sachlichkeit werde das Gespräch in etwas allzu Alltägliches verwandeln - fürchtete er wahrscheinlich. „Na und? Ich denke, man sollte nur wegfahren, wenn man anderswo gebraucht wird, wenn man eine Arbeit hat, eine Perspektive sozusagen.“ Chariton war gerade zu seiner eigenen großen Freude zu der Erkenntnis gelangt, dass er diesem Ort so rasch wie möglich den Rücken kehren würde, sobald seine Schwiegermutter wieder gesund (oder gestorben) sei. Was er noch nicht wusste, war, dass er niemals von hier Hüchten würde können. Nun meldete auch ich mich zu Wort und bemerkte sogleich ein wenig irritiert, dass ich vom Ihema abwich. Aber ich wusste, dass sich alle längst an meine „themenfremden Verallgemeinerungen” gewöhnt hatten. „Wissen Sie, das Phänomen des Herausgerissenwerdens, das Verlassen des eigenen Heimatortes, weist doch höchst merkwürdige Eigenschaften auf“, sagte ich. Chariton legte den Kopf schief und seufzte träge, so als würde er sich auf einen langen Monolog von mir einstellen. „Ein Ort ist nichts Äußerliches und Zufälliges. Er ist nicht austauschbar oder uneindeutig, nein, ein Ort (wenn wir von einem Zuhause sprechen, wie wir es hier tun) ist ein Teil unseres Selbstverständnisses, das heißt, des Wesentlichen, des Ursprünglichen. Denn, wie wir wissen, offenbart sich das Wesen der Dinge erst dann, wenn man Grenzen setzt. Und diese Grenzen sind die Umrisse des Hauses.“ Ich spürte, dass ich angefangen hatte zu predigen, und wartete darauf, dass man mich unterbrechen würde. „Unser lieber Philosoph mag cs, alles in einen Nebel zu hüllen“, bemerkte Alexander. „Aber gut! Mag der Ort, an dem wir geboren und aufgewachsen sind, für uns wichtig sein! Niemand hält Sie davon ab, diesen Ort zu lieben und sich mit Seufzern und Nostalgie daran zu erinnern. Aber warum dort für immer klebenbleiben? Das ist es, was ich nicht verstehe! Gib mir eine Antwort, wenigstens irgendeine, gib mir etwas Klares, etwas, worauf ich mich stützen kann, denn ich habe keine Kraft mehr. Vielleicht gibt es in diesem Redeschwall ja etwas, an dem ich mich festhalten und das ich gedanklich weiterentwickeln kann.“ „Heimat ist keine Abstraktion, Heimat ist dort, wo Menschen leben“, erläuterte ich das Offensichtliche. „Lasst mich erklären, wie ich das meine.“ Ich schaute mich um, betrachtete meine Gesprächspartner. „In der Kindheit, das heißt bei den frühesten Prägungen, die wir erfahren, ist unser Bewusstsein extern, es befindet sich nicht im Verstand, nicht im Kopf, sondern an dem Ort, an dem wir uns befinden. Mein “Ich” ist mit der Umgebung verbunden, die mir für Erfahrungen zur Verfügung steht. Die Welt verändert sich und mit ihr verändert sich auch das Kind. Es regnet — das Kind weint, die Sonne scheint — das Kind lacht, und das geschieht aus einem bestimmten Grund. Das ist nicht die Reaktion des Kindes auf äußere Ereignisse, es ist das Kind selbst. Es ist ein Teil der Welt, und die Welt ist ein Teil von ihm. In der zweiten Phase konzentriert sich das Bewusstsein und wendet sich nach innen, konzentriert sich auf einen Punkt, auf das “Ich”, auf das Selbstbewusstsein. Aber das, was sich in diesem Bewusstsein befindet, ist zu einem Teil die Summe des Umfelds des Kindes. Die äußere Welt wird zur inneren Welt. Wie das geschieht und was genau von der Welt im Verstand des Kindes übrigbleibt — das ist eine äußerst schwierige Frage und für unser Gespräch irrelevant. Also, dass unser Zuhause in unserem Selbstbewusstsein gespeichert wird — das ist klar. Wenn ihr aufwachst, wenn ihr den Ort (Euer Zuhause) wechselt — in der Hitze des Gefechts habe ich vergessen, dass SEPTEMBER 2023 51