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hier alle heimatlos sind — dann wird Eure Phantasie zunächst Euer Heimweh verstarken, alles um Euch herum wird anders sein, die Farben werden stumpf und der Himmel verblasst, und dann wird Eure Phantasie das, was ihr seht, durch etwas ersetzen, was Euch anzieht. Zuerst werdet ihr übertreiben, ihr werdet Euer Zuhause und alles, was ihr damit in Verbindung bringt, idealisieren, und dann werdet ihr anfangen, das Imaginäre über das Reale zu stellen. Ja“, schlussfolgerte ich selbstzufrieden, „das Leben eines Emigranten ist verdreht, er lebt in einer ständigen Anspannung. Sein ganzer Alltag ist beherrscht von dem Gefühl: Es ist alles nicht so, wie es sein sollte. Hier stelle ich uns alle an den Pranger (mich eingeschlossen). Daher kommt auch der gewisse Hang zum Philosophieren in Emigrantenkreisen. Wenn man jemanden entwurzelt, wenn man Wurzeln herausreißt, dann schmerzen die Wunden.“ „Da haben Sie jetzt aber viel dahergeredet! Und ziemlich übertrieben!“, entgegnete Chariton, doch seine Worte klangen nicht beleidigend, sondern eher gutmiitig. ,,Bewusstsein, Sehnsucht, Emigranten! ... Sie vermischen alles! Ich fürchte, Sie denken zu viel nach!“ „Sie sind nicht zufälligerweise ein Marxist?“ Der Professor in unserer Runde musterte mich mit einem Blick, als wüsste er alles über mich, so als hätte er mich durchschaut und erkannt, was sich wirklich hinter meinen Reden verbarg. „Der Marxismus ist jetzt wieder populär in Europa. Hehehe. Das Proletariat ist nirgendwohin verschwunden und, wie es scheint, sind die Unterdrücker ebenfalls noch da. Hehehe.“ Der alte Wirtschaftsprofessor Efim Arnoldowitsch Worobjow war auf Einladung einer Universität nach Deutschland gekommen. Er war schlank, klein, dünn und hatte schlaue, aber freundliche Augen. „Egal was Sie sagen, Ihrer Meinung nach war zu Hause alles besser”, streute Chariton Salz in unsere Wunden, wohl wissend, dass wir alle dieser Meinung waren, manche ausdriicklich, manche im Stillen. „Früher haben wir das Ausland immer überhöht. Und wie ist es hier wirklich? Eine Diktatur des Systems!“ „Ja, das ist der Preis, den man zahlen muss. Aber dafür ist hier alles sauber, alles ist ordentlich, aufgeräumt und an seinem Platz. Alles wird für die Menschen getan!“ Alexander bedauerte wohl sogleich, dass er das gesagt hatte. „Ich bin ein Weltbürger!“, erklärte der Professor. „Jetzt sind Sie darauf fixiert, wo Sie herkommen, weil Sie mit sozialen, alltäglichen und finanziellen Problemen konfrontiert sind, aber glauben Sie mir, das geht vorbei. Erweitern Sie einfach Ihren kulturellen Horizont, studieren Sie die Geschichte und Kultur der Orte, an denen Sie sich aufhalten. Sie haben eine viel zu deterministische Weltsicht. Der Geburtsort bestimmt nicht alles. Wo, frage ich Sie, bleibt da die Freiheit, sein Leben selbst zu gestalten, Sie Philosoph?!“ Er sah mich an, wollte es offenbar klar und deutlich sagen, alles auf einen Schlag klären: Der Mensch ist frei, jammern Sie nicht, machen Sie sich keine Vorwürfe! „Man kann nicht alles nach Belieben ändern!“ Alexander versuchte, den Professor zu beruhigen. „Doch, das kann man! Das ist ja das Wesen von uns Menschen!“, erklärte der Professor. Alle hörten mit großer Aufmerksamkeit zu, fasziniert von diesem Gespräch und dem Bild, das sich ihnen darbot. Der Professor sprach nun etwas ruhiger und konzentrierter als zuvor: „Ich denke, das Problem liegt auch darin, dass viele Menschen gar nicht in der Lage sind, ein neues Land, eine neue Kultur zu akzeptieren. 52 _ ZWISCHENWELT Eigentlich ist das eine schr delikate Angelegenheit! Die Aufgabe besteht darin, die Kultur nicht nur der Allgemeinbildung wegen zu studieren, sondern diese Kultur in sich selbst hereinzulassen, ihr einen eigenen Platz zu schaffen, vielleicht ein eigenes Zuhause.“ „Aber nein! Sie verrennen sich. Es ist doch alles viel einfacher!“ , platzte ich vorwurfsvoll in Richtung des Professors heraus. „Es geht um den Grund, warum Sie überhaupt hierher gekommen sind. Bei der Passkontrolle wird ja genau das gefragt: Business, Tourismus, Transit? Ja nun, warum sind Sie hier? Sind Sie auf der Suche nach Sicherheit? Vielleicht nach besseren Lebensbedingungen? Nach dem Seelenfrieden? Oder sind Sie ein Flüchtling? Wenn ja, ist es wohl das, was Sie definiert.“ Chariton sah mich an. Du bist auch stets im Sumpf des Unerklärlichen gefangen — schien er mir sagen zu wollen. „Ach, warum bist du denn so?“ Alexander versuchte zu entschärfen. Er spürte, dass alle verletzt waren. „Was ist mit dem Patriotismus?“ Chariton wechselte schnell das Thema und driftete ab. „Ich habe Menschen kennengelernt, die, um ihre Ausreise sozusagen zu rechtfertigen, ihre Heimat in ein schlechtes Licht rückten, die Geschichte ihres Landes in einer solchen Weise diskreditierten, dass sie sogar behaupteten, ihr Land existiere überhaupt nicht. Dies sei kein Land, sondern nur ein Missverständnis, sodass ihnen gar keine andere Wahl geblieben sei, als wegzugehen. Warum an einem fremden Ort bleiben, wenn es drüben, im Ausland, besser ist? Wie selbstgerecht!“ Als er das sagte, wurde ihm gewiss sofort klar, dass er damit alles nur noch schlimmer gemacht hatte. Zigarettenpause. Cognac. Fortsetzung ... Und so weiter, immer im Kreis herum. Aus dem Russischen übersetzt von Serhij Forkosh und Vladimir Vertlib Serhij Forkosh wurde 1984 in Hruschowo, einem Dorf in der Karpatoukraine, geboren. 2005 schloss er das Studium der Rechtsphilosophie an der Rechtsakademie in Kyiv ab. Er verteidigte seine Doktorarbeit über die Philosophie und Methodologie der Physik (auf Basis dieser Arbeit wurde die Monographie “Schritt der Physik: von der Euphorie zum Durchbruch” veröffentlicht). Seine Habilitationsarbeit hatte die Methodologie soziokultureller Transformationen zum Thema (ausgehend von dieser Dissertation wurde die Monographie “Horizonte der Kultur” veröffentlicht). Serhij Forkosh unterrichtete an der Universität von Kyiv Philosophie. Er ist der Gründer des Instituts für soziokulturelle Transformation in Kyiv. Heute lebt Serhij Forkosh mit seiner Familie in Wien. Anmerkungen 1 «O,ckoABKo ACT, CKOABKO 31M», „Oh, wie viele Sommer, wie viele Winter ...“: Eine im Russischen sehr gängige Begrüßungsfloskel, die meist benützt wird, wenn man sich lange nicht geschen hat. 2 Iwan Konstantinowitsch Aiwasowskij (1817-1900) war ein russischer Maler, der in seiner Heimat vor allem durch seine Marinebilder berühmt wurde.