OCR
Yuliia Iliukha Tramontana (Auszug) Bei Nacht betraten wir ein Dorf im Donbas. Es war ein unertäglich warmer Frühherbst, das T-Shirt unter der gelb gekennzeichneten Schutzweste klebte am verschwitzten Körper. Ich hielt einen Moment unter dem mondlosen Himmel inne und sog die Luft durch die Nase ein. Die Luft war trocken und es schien, als würden die koordinierten Bewegungen meiner Jungs darin rascheln und die Nacht augenblicklich in Fetzen reißen. Dann noch dieser Geruch. Der Geruch von Äpfeln. Wir gingen durch einen Obstgarten — Äpfel überall. Ich konnte sie nicht sehen, aber ich konnte sie fühlen. Mit meinem ganzen Körper, mit jeder Faser. Wir zertraten sie mit den Stiefeln und die Apfelstückchen spritzten auf unsere Gesichter und Kevlar-Helme. Ich ertrank im berauschenden Aroma der Äpfel. Ich schulterte das Maschinengewehr und streckte die Hand aus, um wenigstens einen unsichtbaren Apfel über meinem Kopf zu ertasten, da flammten Leuchtspuren am schwarzen Himmel auf. KK Man sagt, dass ein Mensch an der Schwelle zum Tod sein ganzes Leben in einem einzigen Augenblick an sich vorbeiziehen sieht. Das ist gelogen. An mir zog nur eine einzige Woche vorbei. Eine Woche, die genauso unertraglich bis zur Besinnungslosigkeit nach Apfeln roch. KK »Roma! Ro-o-o-ma! Roman!« Die Stimme meiner Tante riss mich unbarmherzig, wie mit einer Zange, aus dem Schlaf. »Romka! Horst du mich oder nicht? Brauchst du eine personliche Einladung zum Frühstück? Steh auf, sonst musst du bis zum Abend hungern, ich habe keine Zeit, euch mit dem Essen hinterherzulaufen!« Tante Lidka stand in ihrer Lieblingshaltung über mir, die Arme in die Hüften gestemmt. Ich versuchte, sie wegzustoßen und mich mit einem Kissen zuzudecken, aber sie riss es mir aus den Händen. »Steh auf oder ich rufe deine Mutter an und erzähle ihr, dass du wieder hinter der Garage geraucht hast!« Bei diesen Worten raffte ich mich auf und sprang aus dem Bett. Meine Tante, breit wie ein Fass in ihrem bunten Rock und dem weißen Kopftuch, sah mich an und zog eine Grimasse. »Was bist du nur für ein Arbeiter, Romka! Ich war wohl nicht bei Sinnen, als ich zugestimmt habe, dich zum Apfelpflücken mitzunehmen ...« Sie schüttelte den Kopf. »Tante Lidka, seien Sie nicht so streng, ich esse schnell etwas und bin gleich fertig.« Ich hatte Angst, dass meine kleinen Zigarettensünden meiner Mutter zu Ohren kämen. Ich war 13 Jahre alt und zum ersten Mal auf der Krym. KK Meine Mutter hatte mich nach Karassiwka geschickt. Zu meiner Tante Lidka, der Schwester meines Vaters, damit ich einmal das Meer sehen konnte. Und damit ich mit dem Pflücken von Äpfeln etwas Geld verdienen konnte. Die ersten fünf Tage sah ich das Meer nicht, dafür verfolgten mich diese verdammten Äpfel bereits bis in meine Träume. Und das alles für einen Roller. Ein Jahr lang hatte ich versucht, meine Mutter zu überreden, mir einen zu kaufen, weil Antocha aus der Nachbarstraße seinen verkaufen wollte. Aber sie blieb hart: Dafür hatten wir kein Geld. »Romka, du bist wie ein kleines Kind«, sagte sie zu mir, »woher soll ich das Geld nehmen, soll ich mir welches malen? Wenn du willst, rufe ich Tante Lidka auf der Krym an, im September ist Apfelzeit. Da kannst du hinfahren und etwas Geld verdienen. Und das Meer wirst du auch riechen können ...« »Und was ist mit der Schule?« Ich war überrascht. »Ach, was soll schon mit der Schule sein«, winkte meine Mutter ab, »bei deinen Noten ist eine Woche Abwesenheit kein Problem. Ich hole von der Krankenschwester ein Attest, dass du krank warst. Dein, Gott vergebe mir, Vater sollte dir zumindest diesmal nützlich sein ...« Mein „Gott vergebe mir“ Vater wohnte zwei Straßen weiter. Er wandte sich ab, wenn er mich sah. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann er uns verlassen hatte — mir schien, meine Mutter und ich waren schon immer zu zweit gewesen. Ich ging damals in dieselbe Schule wie meine Halbschwester — die Tochter meines Vaters mit der anderen Frau war vier Jahre jünger als ich — und ich hatte noch nie mit ihr gesprochen. Meine Mutter verbot es mir und auch ich kam nicht auf die Idee, ein Gespräch mit der Tochter eines Verräters zu führen. Denn genau das war mein Vater: ein Verräter. Erstaunlicherweise hatte meine Mutter eine gute Beziehung zur Schwester meines Vaters. Sie schickten sich zu allen Feiertagen Grüße, Tante Lidka kam sogar öfters zu uns, meinen Vater und seine neue Familie besuchte sie aber demonstrativ nicht. Die Idee, zu meiner Tante zu fahren, um dort zu arbeiten, fand ich gut, auch weil ich nicht zur Schule musste, die ich sowieso hasste. Am nächsten Abend setzte mich meine Mutter in den Zug und am Morgen darauf holten mich meine Tante Lidka und Onkel Sawik vom Bahnhof ab. Ich saß auf dem Rücksitz ihres alten, klapprigen ausländischen Autos und dachte an den Roller. Meine Tante und mein Onkel hatten selber keine Kinder. Ich weiß nicht warum. Es war für beide die zweite Ehe. Vor ein paar Jahren war Tante Lidka wegen Onkel Sawik auf die Krym gezogen. Meine Mutter nahm an, dass die Zuneigung meiner Tante zu ihr mit mir zu tun hatte und nörgelte ständig an mir herum: Ich solle mich nicht mit meiner Tante streiten - schließlich sei ich ihr einziger Erbe. Aus irgendeinem Grund vergaß sie die Tochter meines Vaters mit der anderen Frau. Aber das tat’ Iante Lidka auch. Auf dem Weg nach Karassiwka fragte ich nach dem Meer. Meine Tante hatte andere Pläne. »Welches Meer«, spuckte sie die Worte zusammen mit den Schalen gerösteter Kerne aus dem Fenster. »Meinst du, wir können es sehen, das Meer? Lass uns zuerst Äpfel pflücken und danach wird Sawik mit dir ans Meer fahren. Nicht wahr, Sawik?« Mein Onkel nickte nur. Meistens schwieg er, während meine Tante ununterbrochen redete, auch mit Kernen zwischen den Zähnen. Ich hatte den Onkel als einen Kerl mit krkummem Rücken und in einem zerschlissenen T-Shirt in Erinnerung, mit schwarzen Stoppeln im Gesicht und müden Augen. Onkel Sawik rauchte viel, zog Speichel durch die Zähne und zuckte schuldbewusst unter SEPTEMBER 2023 53