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den Blicken meiner Tante zusammen, wenn sie ihn anschnauzte: »Ich habe dich doch gebeten, nicht zu spucken!« Aber er spuckte trotzdem, sobald seine Frau sich wegdrehte. Mein Onkel und ich nahmen ein hastig zubereitetes Frühstück, bestehend aus Rührei mit Tomaten, Butterbroten und Tee, zu uns. Danach befahl uns Tante Lidka die Kisten ins Auto zu laden und in den Garten zu fahren. Ich seufzte und setzte mich auf den Beifahrersitz. Das Rauschen des unsichtbaren Meeres war in meinen Ohren beinahe verstummt. Unterwegs holten wir noch zwei weitere einheimische Arbeiter ab — Vater und Sohn. Der Name des Vaters war Bulat und der Junge, der aussah, als wäre er in meinem Alter, hieß Temur. Ich war froh, jemanden zu haben, mit dem ich mich unterhalten und vielleicht sogar rauchen konnte, aber Temur wirkte auf den ersten Blick nicht schr gesprächig. Bulat wechselte ein paar Worte mit meinem Onkel — über das Wetter, die Ernte und die Preise verschiedener Dinge -, der Junge aber starrte schweigsam aus dem Fenster. Ich warf im Spiegel einen kurzen Blick auf ihn. Temurs Haut war golden, entweder von Natur aus oder weil sie täglich der Krymsonne ausgesetzt war, und ich verglich seine gebräunten Arme, die aus den Ärmeln seines T-Shirts ragten, unwillkürlich mit meinen weiß-bläulichen. Der Vergleich fiel definitiv nicht zu meinen Gunsten aus. Temur hatte glänzendes schwarzes Haar und eine große Adlernase. Zu Hause hätte ich jemanden wie Temur als „Chatschik“ bezeichnet und nicht einmal mit ihm gesprochen. Aber hier, weit weg von daheim, brauchte ich dringend jemanden, an den ich mich anlehnen und Freundschaft schließen konnte. In Ermangelung anderer Kandidaten war Temur also die perfekte Besetzung für die Rolle des Freundes. Der Garten war ein weitläufiges Areal, das mit jungen, aber bereits hochgewachsenen Apfelbäumen bepflanzt war. Gelb, grün, rosa, rot — Äpfel überall. Der Geruch nach Äpfeln war so penetrant, dass mir davon schon bald schlecht wurde. Wir arbeiteten zu zweit: ich und mein Onkel, Temur und sein Vater. Temur und ich pflückten die niedrig hängenden Früchte und warfen sie in Eimer, während die Männer Leitern hatten, um an die hohen Äste zu gelangen. Meinen ersten Eimer hatte ich nach nur wenigen Minuten bis zum Rand gefüllt. Mein Onkel prüfte ihn, dann schaute er mich grimmig an und knurrte, dass ich all die zerquetschten Äpfel als Abendbrot essen müsse. Ich murrte, aber ab jetzt pflückte und legte ich die Äpfel so behutsam und vorsichtig, als wären sie Christbaumkugeln aus Glas. Onkel Sawik verstaute die gefüllten Eimer in Kisten. Ein paar Stunden später hatten wir eine ganze Ladung befüllter Kisten beisammen. »Semerenko, Candil Sinap, Golden Delicious, Hultaja Pembe, Aurora Krymska ...«, zählte mein Onkel auf, deutete mit dem Finger auf die Kisten und spuckte zwischen seine Füße. Er sah glücklich aus, sogar die übliche Düsternis in seinem Gesicht war verschwunden. Wir afen im Garten zu Mittag — zerquetschte Apfel. Als ich den fünften Apfel gegessen hatte, verstand ich die Bedeutung der Redewendung „die Schnauze voll haben“. Alles drehte sich um diese „blöden Äpfel“. Das ferne Bild von Antochas Motorroller gab mir Kraft, aber am Abend war ich so müde, dass ich weder die Arme heben noch mich bücken konnte. Temur und sein Vater lachten über mich — harte Arbeit war für sie alltäglich. Ich lehnte mich an den Stamm eines Apfelbaums, während die zwei und mein Onkel die Kisten in die „GAZelle“ luden, die die Ernte abholte. Der Fahrer bezahlte Onkel Sawik, der wiederum überreichte Bulat ein paar Geldscheine. Das gab mir Hoffnung. 54 ZWISCHENWELT »Lass uns fahren, Roman«, rief Onkel Sawik mir zu und steckte das Geld in seine Tasche. Enttäuscht, nicht gleich bezahlt zu werden, ging ich zum Auto. Bulat hatte bereits den Vordersitz in Beschlag genommen, ich musste mich hinten neben Temur setzen. Er schaute aus dem Fenster, drehte sich aber plötzlich zu mir und fragte: »Wollen wir etwas unternehmen Ich nickte, obwohl mein ganzer Körper vor Schmerz schrie und ich nur noch ins Bett fallen und sterben wollte. »Ich hole dich in einer Stunde ab«, lächelte Temur und zeigte seine makellosen weißen Zähne. Ich nickte erneut, legte meinen Kopf zurück und schloss die Augen. Jedes Schlagloch, über das mein Onkel das Auto steuerte, jagte einen zuckenden Schmerz durch meinen Körper. Verfluchte Äpfel ... Eigentlich war mir der Roller gar nicht mehr wichtig. Während des Abendessens fielen mir immer wieder die Augen zu. Meine Tante plauderte, den Mund voller Bratkartoffeln, und mein Onkel kaute schweigend auf einer Hühnerhaxe herum. Ich hatte meine mit Ketchup getränkten Kartoffeln schon aufgegessen und wünschte mir nur, Temur würde mich nicht abholen kommen. Aber er kam. Er schlug so heftig gegen das Metalltor, dass meine Tante von ihrem Stuhl aufsprang und zum Fenster eilte. »Wer ist denn da?« »Temur! Er holt Romka ab«, antwortete mein Onkel ungewöhnlich gesprächig. »Oh, dieser ...« Aus irgendeinem Grund stach mir dieses „dieser“ unangenehm in der Brust. Ich schob meinen Stuhl zurück, stand auf und bedankte mich für das Essen. »Bleib nicht zu lange weg, morgen warten wieder die Äpfel auf dich«, sagte meine Tante und sah mich aufmerksam an. »Und treibt keinen Schabernack. Verlauf dich dort nicht ...« Mein Onkel blickte zu meiner Tante, sagte aber nichts. Ehe ich ging, versprach ich, in einer Stunde wieder da zu sein. Temur und ich schlenderten durch das Dorf und kauften Chips im Laden. Das heißt, Temur kaufte Chips mit dem Geld, das er sich beim Apfelpflücken verdient hatte. Ich hätte noch gern Bier gekauft, aber ich hatte kein eigenes Geld und wollte Temur nicht anschnorren — das tut man nicht unter Burschen. Als ich Temur fragte — während er auf den mit Unkraut überwucherten Stufen eines Abrisshauses Chips knabberte —, warum er arbeitete anstatt zur Schule zu gehen, antwortete er: »Das hole ich nach. Im Winter gibt es hier keine Arbeit, wir arbeiten, wenn es welche gibt. Du bist ja auch nicht in der Schule.« »Auch wahr«, stimmte ich zu. »Ich will mir einen Roller kaufen. Und du?« »Ich habe mich noch nicht entschieden, was ich mit meinem Leben machen will«, lächelte er etwas schüchtern. »Warst du schon einmal am Meer?« »Nein, mein Onkel hat mir versprochen, mich mitzunehmen, wenn wir mit dem Apfelpflücken fertig sind. Fahren wir zusammen?« Temur steckte seine Hand in die Chipstüte. »Wenn deine Tante es erlaubt.« An diesem Abend kam ich spät nach Hause. Ich musste an das Tor klopfen, um eingelassen zu werden. Mit einer Taschenlampe bewaffnet, öffnete meine Tante das Ior. Sie leuchtete uns in die Augen und schnaubte mich an, als sie Temur neben mir sah: »Wenn du morgen verschläfst, hole ich dich nie wieder zu uns.«