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sah ich auch, aber es gab hier keine Spur von Weizen, die Erde war karg und die Leute schauten arm aus. Noch vor Sonnenuntergang kam ich im Dorf meines Freundes an. «Wo ist das Haus von Zawada?» fragte ich in der ersten Hütte am Dorfrand. Eine Alte mit schwarzen, aufgesprungenen Fußsohlen warf wir einen starren Blick zu. «Welcher Zawada?» «Der, welcher auf dem Hügel beim Wald wohnt. Der Töpfer.» «Alle Zawadas bei uns machen Töpfe, aber keiner wohnt am Waldrand.» «Wojciech Zawada», sagte ich. «Er hat eine Tochter.» «Ich weiß nicht», antwortete die Alte. «Fragen Sie jemand anders.» Ich ging weiter — nach links und rechts schauend, wie jemand, der nach vielen Jahren nach Hause zuriickkehrt und die Veränderungen, die während seiner Abwesenheit passiert sind, prüft. Ich sah kein fruchtbares Tal, in dem Weizen wuchs - auf der gelben, steinigen Erde waren nur Hafer und Kraut zu schen. Ein zerlumpter Alter stand vor einem Haus, also fragte ich wieder nach meinem Freund. «Zawada», murmelte der Gefragte. «Wojtek?» «Ja, Wojtek.» «Aha...» lachte er los. «Der, der den Polizisten verhaut hat. Und sie haben ihn hops genommen und so sitzt er.» «Und die Tochter?» fragte ich. «Und die Frau?» «Zawada hatte keine Tochter. Weder eine Tochter, noch eine Frau. Er war ein einsamer Mann.» Ich lehnte mich an einen Baum am Straßenrand. Wieder fühlte ich mich unglücklich und enttäuscht. Auf einmal löste die Situation, in der ich mich befand, ein hysterisches Lachen aus — ich lachte lang und boshaft über meine zerstäubten Hoffnungen, an denen kein Groschen Wahrheit gewesen war. Dann ging ich in Richtung Stadt. Nach einigen Tagen kehrte ich zum Gefängnis zurück, ich wollte Zawada besuchen, fragen, warum er das gemacht hatte, er, der rechtschaffene, gute Zawada — warum er sich so schrecklich über mich lustig gemacht hatte. Warum hatte er mich so gekränkt? Wofür und woher war ihm dieser irre Gedanke gekommen? Ich bekam einen Besuchstermin. Dem Wächter gab ich ein bescheidenes Paket: ein Laib Brot, einige Früchte, ein Päckchen Machorka-Tabak. Ich bemerkte nicht, wann er beim Drahtgitter erschien. Wir schwiegen, ich schaute ihn fast feindselig an, und er beobachtete mich verstohlen. Hedwig Wingler Erstkommunion Aus Anlass des Todes meiner Schwester Gudrun, geboren am 6. Februar 1941, gestorben am 2. Dezember 2022. Meine Erinnerung hangt an einem Kleidchen, das Gudrun zur Erstkommunion trug. Es muss im Jahr 1949 gewesen sein, die Erklärung für das vermutete Datum kommt später. Das rosarote Kleid der Achtjährigen hatte Flügelchen an den Schultern, keine «Also?» fragte er angrifig. «Bist du in Mrzyglöd gewesen?» «Nein», versuchte ich plötzlich eine Lüge. «Ich war nicht dort. Wenn du in einem halben Jahr rauskommst, dann fahren wir gemeinsam hin.» «In einem halben Jahr bin ich draußen», sagte er. «Wenn du willst, dann wartest du.» «Ich warte, ich bin ja dein Freund.» «Ja sicher.» «Und du bist IHR Vater, legte ich nach. «Ba...», seufzte er. «Du bist ein guter Junge. Ich denke, du bist mir nicht böse.» «Ich verstehe», Nlüsterte ich und fühlte einen Klos im Hals. «Und ich liebte sie so wie einen Menschen aus Fleisch und Blut.» «Sie ist ein gutes Mädchen», lachte Zawada los. «Gut und schön. Solche gibt es auf der Welt.» Er gab mir durch das Gitter zwei Finger, die ich stark drückte. «Gutes, lieber Zawada. Ich komme wieder...» versprach ich im Gehen. Aber ich bin nicht mehr hingefahren. Das Leben hat mich in den Strudel anderer Geschehnisse geworfen. Ich war gezwungen, wegzureisen und ich habe ihn nie mehr wiedergesehen. Wojciech Zawada, den Topfer aus dem Dorf in den Vorkarpaten, der einen Polizisten geschlagen hatte. Aus: Kalman Segal: Abenteuer im Städtchen, Warszawa 1965; Übersetzung aus dem Polnischen von Agnieszka Jankowska Der Schriftsteller, Publizist und Romancier Kalman Segal wurde am 29. Dezember 1917 als Sohn einer armen jüdischen Familie in der galizischen Kreisstadt Sanok geboren. Schon als Schüler sympathisierte er mit dem Kommunismus. Den Zweiten Weltkrieg überlebte er in der UdSSR in einem Lager im Kolmya-Gebirge, wohin er mit seiner Familie deportiert worden war. Nur seine Mutter Ita und Kalman Segal selbst kehrten 1946 völlig desillusioniert von der Sowjetunion nach Polen zurück. 1969 wanderte Kalman Segal nach Israel aus, wo er einige Zeit in Haifa lebte und sich dauerhaft in Jerusalem niederließ. Ab den 1970ern war er in der jiddischen Abteilung von Radio Kol Israel tätig. In seinen Gedichten und Prosawerken, die in Jiddisch und Polnisch verfasst sind, erinnert er an die Zeit seiner Kindheit. Der Schriftsteller starb am 18. Mai 1980 in Jerusalem an einem Herzinfarkt. Im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft wird derzeit das Erscheinen von Kalman Segals “Auf der Insel” (Übersetzung aus dem Polnischen von Agnieszka Jankowska) vorbereitet. richtigen Ärmel. Es hatte das, was wir eine Passe nannten, das ist ein Stoffteil, der beim Kleid kleiner Mädchen zwischen den Schultern eingenäht wird und nicht bis zur Taille reicht. Unter der Passe, weit oberhalb des Nabels, beginnt das gefaltete Röckchen. Bei Gudrun endete es über den Knien und war vermutlich von unserer Nachbarin genäht worden, der Frau Jofen, Damenschneiderin mit ihrer Werkstatt im Nebenhaus. Gegenüber befand sich SEPTEMBER 2023 59