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Meral Simsek Zwischen zwei Grenzen Übersetzung eines Textes in dem mitschwingt, was an den Grenzen Weißrusslands passiert. Hier ist das Niemandsland ein Fluss, aber die Mentalität der Schmuggler und die der Soldaten ist dieselbe, mit Geld und Unmenschlichkeit als Herz der Ausbeutung menschlichen Leids... Trotz meiner Anstrengungen gelang es mir nicht, die Sorge von meinem Gesicht verschwinden zu lassen, als meine Augen denen von Dicle begegneten, die versuchte, unsere Taschen in ihrer Nähe am anderen Ende des Bootes festzuhalten — ein noch dreckigeres Boot als dieser Fluss, der zwischen Grenzen fließt. In Momenten wie diesen hatte ich nicht einmal Zeit daran zu denken, dass dieser Versuch dumm war. Ich nahm meine Augen von Dicle und fuhr fort, mit den beiden anderen, die mit uns im Boot waren zu ringen. In diesem Augenblick sah ich wie einer der maskierten Männer am Ufer denen im Boot zurief und gestikulierte „wirf sie raus.“ Es war nicht notwendig, die Sprache des maskierten Mannes zu sprechen. Ich verstand, dass man mich in den Fluss werfen würde. Kurz zuvor hatte der Besitzer dieser Stimme, der es nicht wahrhaben wollte, dass ich mich ihm widersetzte während er mit seinem Gewehrkolben auf meine Schenkel und meinen Rücken einschlug, in einer Sprache, die ich spreche gesagt: „sei still, du wirst sterben!“ Im Bruchteil einer Sekunde, in einem Anflug an Energie, griff ich nach der Hand des Mannes im Boot, das Ruder war morsch geworden, weil es so viel Zeit im Wasser verbracht hatte, und schlug ihm ins Gesicht. Vor Durst, Hunger, Müdigkeit, Sorge und wegen den Schlägen, die kurz zuvor meinen Körper getroffen hatten, gelang es mir nicht, das Ruder gut zu beherrschen. Mit dem Schwanken des Bootes geriet der zweite Mann in Panik. Er versuchte, mir das Ruder aus den Händen zu reißen und mich diesmal ins Wasser zu werfen. Während das Boot schwankte und sich drehte, fiel Dicle beinahe über Bord, sie versuchte mir zu helfen, was ihr aber nicht gelang. Der Mann, den ich ins Gesicht geschlagen hatte, fing sich wieder. Mein ganzer Kampf war umsonst gewesen, er erlangte sein Gleichgewicht zurück und schaffte es, mich ins Wasser zu werfen. Aber das Ruder war immer noch in meinen Händen. Ich nützte das schwimmende Ruder und schaffte es, in Richtung des anderen Ufers zu treiben, aber nur für kurz. Das Boot kam näher, zwei Hände drückten meinen Kopf in den Fluss. Das Ruder gehörte wieder ihnen. Ich wusste nicht, ob Wasser in meine Lungen, meine Nase oder meinen Mund eindrang, aber der schlammige Fluss verschlang mich. Wie geht Brustschwimmen nochmal? Alles, was ich wusste, war ausgelöscht. Die Stimme „Sei still, du wirst sterben!“ klang mir immer noch im Ohr. Als ich auf- und untertauchte im Wasser tauchte das Bild von zwei Kindern auf. „Mami, gib nicht auf!“ schrien sie. Was machten sie hier? Der Fluss verschlang mich, ich kämpfte. Die Kinder schrien erneut, „Mami, nein, geh nicht! Dreh dich auf den Rücken, auf den Rücken!“ Was machten sie hier? Wie alt waren sie? Ich warf mich auf den Rücken in die Arme des Wassers. Wo sind die Arme meiner Mutter? Wie wütend meine Mutter auf mich sein würde, sollte der Fluss mich verschlingen. Ich wäre ihr drittes verlorenes Kinder. Noch schlimmer, ohne ein Grab, wie mein Bruder! Wie oft hatte ich diese Empfindung durchlebt? Das musste das letzte Mal sein. Mein Haar trug das Flüstern des Flusses an mein Ohr, während Sonnenstrahlen meine tränenden Augen trafen. Wohin trug mich der Fluss? Endete die Mariza im Meer oder würde ich durch den Schlamm gezogen werden? Sobald ich meine Augen schloss und dem Flüstern des Flusses lauschte, schrien die Kinder erneut. „Mami, mach weiter, tritt das Wasser mit deinen Füßen!“ Meine Beine, voller Quetschungen von den Schlägen mit der Mündung der Waffe und dem Schlagstock, hatten den Schlamm aus dem Fluss wie Schwämme aufgesogen. Wie sollte ich es schaffen, mit meinen Füßen zu treten? Und der Fluss verschlang mich eifrig. War ich dabei, zu gehen oder zu bleiben, ich wusste es nicht. Bewegten sich meine Füße? Auch das wusste ich nicht. Mein Haar trug die Stimme des Wassers an meine Ohren. „Du da, gib dich auf und mir hin!“ Ich war dabei, mich in die Stimme des Flusses fallen zu lassen, als mich eine Frauenstimme fand. „Schnell, reich mir die Hand!“ Der Fluss zog an meinem Haar, die Frau an den Händen. Die Hände des Flusses und die der Frau waren so verschieden. Als mein Körper gegen die Steine am Ufer stieß begriff ich, dass ich lebte. Aber wie? Ich konnte immer noch nicht atmen. Jede Zelle meiner Lungen war mit dreckigem Flusswasser erfüllt. Ich schloss meine zwei Hände zu einer Faust, drückte auf meinen Magen, auf mein Zwerchfell, immer wieder. Das schmutzige Wasser strömte aus meinem Mund, aus meiner Nase, in Hustenanfällen, die mir Übelkeit verursachten, aber je freier mein Atmen wurde, desto mehr kam ich ins Leben zurück. Dauerte das alles nur wenige Minuten, oder Jahrhunderte? Um die Wahrheit zu sagen, das ist einerlei, ich lebte. Als ich mich der Erde überließ, begegnete ich dem Blick einer Frau. Dicle. Sie lebte! Während die Sonne meinen Körper liebkoste, lächelte ich ihr zu. Das Lächeln ließ mein Gesicht erstrahlen. Ein schmerzvolles, aber glückliches Lächeln darüber, am Leben zu sein. Ich lächelte, wir lebten. Nahebei, Geräusche von Schüssen am anderen Ufer, die Geräusche davonrasender Autos. Das Bellen von Hunden kam näher. Wäre Lili hier, sie würde vor Angst Miauen und sich zwischen meinen Beinen verstecken. Dicle hielt meine Hand, und in der anderen Kleidung, die leicht feucht aber nicht schlammig war. Diese Hände, diese Hände von Dicle, sie waren so anders als die des Flusses, die mich in die Tiefe zogen... Aus dem Englischen übersetzt von Astrid Nischkauer Meral Simsek ist eine tiirkisch-kurdische Schriftstellerin und Dichterin aus Amed (Kurdisch fiir Diyarbakyr), geb. 1980, und Mutter zweier Kinder. Sie flüchtete und lebt derzeit im Exil in Deutschland. Sie schreibt Gedichte, Erzählungen und Romane. In ihrem autobiographischen Roman ”Nar Lekesi” erzählt die Autorin von systematischer Verfolgung, Folter und Ermordung, aber auch vom SEPTEMBER 2023 61