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Willen, weiterzuleben und weiter zu schreiben. 2022 wurde sie mit dem Theodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und Exil ausgezeichnet. Auf Empfehlung der Theodor Kramer Gesellschaft wurde Meral Simsek im September 2023 zum fünften Europäischen Literaturfestival KölnKalk (eLk) eingeladen. Aus Anlass ihrer Lesung in Köln erscheint in der Melitta Urbancic Die Überfahrt Vorbemerkung von Astrid Nischkauer zu Melitta Urbancics Erzählung „Die Überfahrt“ Die folgende Erzählung ist im Nachlass Melitta Urbancics (1902 — 1984) in verschiedenen Versionen erhalten, die teilweise andere Episoden enthalten. Es handelt sich dabei um Arbeitsfassungen, in die von Melitta Urbancic handschriftlich Ergänzungen und Korrekturen vermerkt wurden. Melitta Urbancic hat vorwiegend Gedichte und religiös-philosophische-Artikel geschrieben. Es ist nicht die einzige Erzählung Melitta Urbancics, jedoch die einzige, die ihrer Tochter Sibyl Urbancic für eine Publikation vollständig genug und für Außenstehende geschrieben scheint. Die Erzählung wurde möglichst genau und, soweit ersichtlich, dem Wunsch der Autorin folgend übernommen. Die einzige nachträgliche Ergänzung ist der von Sibyl Urbancic vorgeschlagene Titel „Die Überfahrt“ für die Erzählung, von der es im Nachlass nur titellose Versionen zu finden gibt. In ihrer Erzählung verarbeitet Melitta Urbancic Autobiographisches literarisch. Das heißt, man hat es mit einem literarischen Text zu tun, dessen Ausgangspunkt eigene Erlebnisse sind, der aber als Ganzes nicht rein autobiographisch ist. Erzählt wird die Schiffsreise einer allein reisenden Frau mit Kind ins Isländische Exil. Auch Melitta Urbancic floh 1938 aus Österreich nach Reykjavik und fuhr mit dem Schiff von Dänemark nach Island. Als zum katholischen Glauben konvertierte Jüdin war sie zu jener Zeit in Graz ihres Lebens nicht mehr sicher. Sie reiste ihrem Mann Victor Urbancic, der bereits alleine vorausgefahren war, nach einem Verhör der Gestapo überstürzt mit den drei Kindern nach. Trotz auffallender Parallelen möchte die Autorin jedoch nicht mit ihrer Figur verwechselt werden und gibt ihr daher den Namen Hanna Herzog. Das Ringen der Autorin um Distanz zum erzählten Stoff verrät sich an den Perspektivsprüngen zwischen Innen- und Außensicht, zu denen es in dieser Version kommt. Ein weiteres, bewusst gesetztes Signal, dass Autorin und Figur nicht ident sind, ist das Kind. Die Figur Hanna reist mit ihrem kleinen Sohn Georg. Melitta Urbancic floh jedoch nicht mit einem, sondern mit drei Kindern nach Island, wobei das jüngste noch ein Säugling war. In ihrem Gedicht „Auf der Flucht“ beschreibt sie ihre Erleichterung, endlich das rettende Exil mit den Kindern erreicht zu haben: 62 _ZWISCHENWELT parasitenpresse ein Leseheft mit einigen Erzählungen und Gedichten von ihr, in der auch die vorliegende Erzählung enthalten ist: Meral Simsek: Feigenflecken. Prosa und Gedichte. Mit Übersetzungen von Astrid Nischkauer, Nurcan Isık, Asiye Müjgan Güvenli, Wolfram Malte Fues und Vedat Ates, Köln: parasitenpresse 2023. Ein eigener Gedichtband von Meral Simsek im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft in der Nadelstiche-Reihe ist in Vorbereitung. Auf der Flucht Der Morgen kam !— Durchs trübe Fenster braute das erste Dämmern im Vorüberfliegen — Die Kinder schienen jetzt in Schlaf zu liegen, der Säugling auch, nachdem die Brust ihm taute. Nur in den Adern, unbeschwichtbar, graute die Angst der letzten Nacht vorm Tägessiegen — Doch als ins Morgenrot die Farben stiegen leuchtend wie nie — und frei der Himmel blaute — da lag der erste Schöpfungstag vorm Blick : Die Erde dampfte Feuchte noch vom Meer Das Vieh ruht im Urfrieden auf der Weide — Ein Hauch vom Flügelschlagen im Geschick, sich wendend, weht vom Todesabgrund her : Das Leben lächelt wieder überm Leide ! (Aus: Melitta Urbancic: Unter Sternen. Gedichtauswahl. Hg. von Agneta Hauber und Astrid Nischkauer. Wien: Theodor Kramer Gesellschaft 2022) Die am Ende der Erzählung beschriebene Lichtstraße, die bei der Ankunft in Island das Schiff mit dem Land verbindet, findet sich an anderer Stelle auch in ihrem Gedicht „Überfahrt“, das gleichfalls autobiographisch geprägt von der rettenden Schiffsreise nach Island erzählt: Überfahrt Dunkler Bug, der Rest des festen Bodens unter unsern Sohlen — Letzter Halt dem Blick nach Westen das Gestänge mit den Bohlen, ein Gerät hier, dort ein Tau, schattenschwarz — Dahinter grau, drohender als alle Grenzen, die wir fliehen, liegt die vage, starre Uferlosigkeit, unbewegt, beinah als trage uns die Arche fernster Tage durch das Totenmeer der Zeit — Wäre nicht das jähe Glänzen Auf die Flut herabgegossen