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wir wollen uns nicht mehr fürchten, Kind, jetzt wird alles gut. Island ist ein gutes Land. Als die Sirene zum dritten Mal das Zeichen zur Abfahrt gibt, geht es auf Deck sehr lebhaft zu. Jetzt ist die Reling in mehreren Reihen von Menschen belagert, die noch einmal nach vorn wollen, ihren Zurückbleibenden zu winken, zuzurufen und die Zurufe von unten aufzufangen. Es ist ein ohrenbetäubender Lärm hinüber und herüber, dazu das dröhnende Stampfen der Maschinen und das Rauschen vom aufgewirbelten Wasser. Papierschlangen in allen Farben werden vom Land als letzter Gruß an Bord geworfen, ein Männerchor ist vom oberen Deck hörbar und Hurra-Rufe antworten. Die Papierschlangen straffen sich. Unmerklich ist der Wasserspalt zwischen dem bebenden Schiffskörper und dem Land weiter geworden, das Heck dreht langsam vom Land ab. Man sieht von ihm aus plötzlich keine Menschen mehr, nur das Wasser, leicht gewellt, sonnenglitzernd, drüber die Möven und hinter einem Wald von Schiffsmasten weit, weit grau ins Farblose überfließend das Meer. Der Kleine hat ein rosa Papierband um die Hand gewickelt. Mir hat man auch eins zugeworfen, alle Leute haben eins bekommen, auch ich, Mutti. Kennt uns denn jemand dort? Nein, Kind, uns kennt niemand. Sichst Du da unten das Boot? Darin fährt der Lotse, der dem Schiff den Weg aus dem Hafen weist. Sie stehen nebeneinander. Am Heck ist es menschenleer, alle drängen sich zum Bug, von wo aus sie noch zurückwinken können. Mutter und Kind sehen hinunter, wo sich der Wasserkeil in endlosem Spiel vom Schiff weg erneuert. Ein schweres Tau hängt vom Schiff bis hinüber zum Lotsenboort. Plötzlich steht alles still, der Riesenschwimmer und sein kleiner Begleiter drüben. Das Seil ist durch, ruft der Kleine. Ja, das Seil ist durch, wiederholt die Mutter und das Echo bleibt ihr für immer. Jetzt ist die Brücke zum Land und aller Vergangenheit abgebrochen. Und dem Kind bleibt ihr ausgesprochenes Wort für lang: Jetzt fahren wir wirklich. Der Abend ist jetzt noch lange hell. Das Kind schläft schon mit dem staunenden Burli im Arm. Das Meer ist nur wenig bewegt. Die Frau sitzt auf der schmalen Bank, die längs des Hecks läuft. Wieder kommt dieses kindische Glücksgefühl über sie, als spielte sie auch noch hier oben auf den feuchten Schiffsplanken unterm Mövenschrei mit dem Blick ins helle Abendmeer Zuhause. Als wär es ein Schabernack den sie, wer weiß? wer da spielt, dem Schicksal vielleicht. Dass ich da sitze, nicht hinter mir, nicht vor mir, nur ein alter Koffer unten in der Kabine. Nein, Georg! Georg und ich, wir im Leeren. Sie nimmt aus ihrer umgehängten Tasche den kostbaren Pass heraus. Wird man später je begreifen, was das heute heißt: einen Pass, einen österreichischen Pass von den Deutschen erkämpft zu haben? Wieder das spitzbübische Lächeln über schwerer Erinnerung an Verhöre bei der Gestapo, an Freunde, an jenen Abend des grotesken Vorschlags ihres Mannes: fälsche Dein Geburtsdatum, wenn sie Dich in Deinem Alter noch nicht weglassen. Mach aus dem 12er einen O2er, so, siehst Du, der Einser sieht nur wie ein dicker Schattenstrich aus. Und das alte Fläschchen Tusch aus der Schulzeit um das Schwarz des Druckes zu erreichen. Auch damals hat ihr diese kindliche Neigung, in den schwersten Lagen plötzlich etwas Vergnügliches zu entdecken, über das gefahrvolle ihrer Handlung hinweggeholfen. Sie sitzen zu viert die ganze Nacht und malen Nullen aus Einsern. Alle Laden werden durchkramt, Schulzeugnisse, Bücher, alte Kinderbilder: Null wird eins, 1912 wird täuschend echt zu 1902. Ihre spitzbübische Laune steckt die sorgenvollen Männer schließlich an. Kind, wie schaust Du aus? 64 _ZWISCHENWELT Mit 36 Jahren hängt einem keine solche Locke ins Gesicht. Meine Gnädigste, wer hat hier eben gekichert? Ich bitte um Würde. Aber gegen Morgen werden sie müde. Und ernst. Ihr Schulfreund nimmt sie zum Abschied in die Arme: Wenn man's Dir auch nicht ansieht, Hanna, glauben tut kaum ein Mensch, dass eine Frau sich zehn Jahre älter macht, als sie ist. Bleib jung, Liebes, bleib, wie Du bist und behüt mir den Buben. Damit sind sie damals gegangen zu ihrem Truppenteil. Und sie hat den Pass bekommen. Es ist kein Mensch jetzt heroben. Sie schlägt ihn auf und schaut ihr kaum kenntliches Passbild an, das sie bei dem schlechtesten Vorstadtphotographen zum Zweck der Unkenntlichkeit hat machen lassen. Hanna Herzog geb: in Wien. Datum: 21. Oktober 1902. Lach nicht, Hannl. Oder darf ich nicht mit mir selbst sprechen, wenn ich sonst niemanden mehr hab? Also lach nicht, die Haare sind wirklich schwarz und die Augen braun, wahrscheinlich bin ich Im 62 lang und keine besonderen Merkmale sind äußerlich zu bemerken, außer vielleicht eine unheilbare Infantilität? Sitzt da auf einem wildfremden Schiff, fährt von einem wildfremden Land in ein andres solches, versteht kein Wort rundherum, hat kein Geld, keinen Menschen (Georg, lieber, lieber kleiner Georg, ich hab Dich!) ja, und ist glücklich. Lieber Gott, ich bin so verboten glücklich. Ich bin frei. Es ist alles zu Ende. Alles fängt an! Die Stewardess hat verspätet doch noch recht bekommen. Zwei Tage und zwei Nächte ist das Meer eine Hölle. Das Schiff rollt auf und ab, Wellenberg, Wellental und es verbindet dieses Schaukeln kunstvoll mit einem seitlichen Schwanken. Von Aufstehen ist keine Rede. Armer Georg, ich kann nicht, laut, Du hast oben auch eine Glocke und vor Dir ist ein Papiersack, armer Georg. Was ist das für ein Spott, wenn die Stewardess pünktlich vor allen Mahlzeiten den besten Speiszettel verliest und doch nur eisgekühltes Kompott bringen kann, merk Dir, Georg, eisgekühlt. Das nützt, versuch nur, Dir wird bald besser. Nie mehr werd ich auf ein Schiff gehen, nie, nie mehr, ich muss für immer in Island bleiben, bis ich sterb in Island bleiben, wenn ich nicht jetzt schon sterbe auf dieser schrecklichen Fahrt, auf diesem furchtbaren Meer. Auf, ab, rechts, links, alles dreht sich und ihre monotonen Gedanken mit: nie mehr auf ein Schiff, für immer in Island. Aber am vierten Tag wacht sie auf, weil es plötzlich still ist. Keine Maschine stampft im Schiffleib, keine Welle rauscht an die Luke, Stille. Ein maßloses Staunen drängt ihr das Glück in die Augen. Sie steht auf. Georg schläft, der Burli staunt, durch die Luke sicht sie kein Wasser. Menschen gehen auf festem Grund, Fässer werden von Männern mit roten Quastenmützen auf Rollleitern vorbeigeschoben. Sie ist plötzlich voll größter Ungeduld. Waschen! Über ihren nackten Körper lässt sie das kalte Wasser rinnen. Herrlich, wieder ein Mensch zu sein und kein Haufen Elend mehr. Jetzt: Turnen. Ja, da schaust Du Hann. Deine Füße sind zu langzum hier Ausschwingen, Deine Arme reichen fastvon Wand zu Wand. Also in die Kleider, los. Das Schiff liegt im Hafen von Faröer. Es ist kalt, nach der Kopenhagener Sonng, also läuft sie los. Der Hafen liegt in einer kleinen felsigen Bucht. Kleine Wellblechhäuser sind an diese Felsen angebaut. Eine steile Gasse holpert mühsam zwischen dem Gestein hinauf. Aber über allem ist Himmel und zwischen allem ist Meer. In einem Ladenfenster sieht man einen Hut, eine Pfeife und eine lange grüne Gurke. Sie geht hinein, erst auf der Schwelle begreift sie, dass sie kein Geld hat und kein Wort der Sprache hier versteht. Also weiter hinauf. Auch ohne Sprache verrät sich ein Ort durch die Luft durch das Unsagbare in seinen Gassen, an seinen Häusern, im Schritt der Vorübergehenden,