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Fiston Mwanza Mujila Halbhölle ich spaziere in meinen Erinnerungen wie ein Bettler am Friedhof ich weiß nicht an welcher Erinnerung ich mich festhalten soll alle sind verrostet ist da jemand? - woher stammst du? ich komme aus dem Bauch meiner Mutter das einzige TV-Gerät in der Gegend gehörte meinem Onkel die Großmutter verbrachte den ganzen Tag an einer Nähmaschine den Rücken im labilen Gleichgewicht die Urgroßmutter hatte Haare so lang wie die Donau was für eine Urgroßmutter! eine Sonne scheint in meinem Bauch, ein Fluss faulenzt in meinem Bauch, ein Hund bellt in meinem Bauch, mein Bauch tut weh, mein Bauch dehnt sich aus, mein Bauch die Sonne ein Fluss tut weh faulenzt mein Bauch ein Hund raucht eine Sonne... Der Kongo wurde in Berlin geboren. Ich weiß nicht genau in welcher Straße, in welchem Haus, welcher Nummer... Es war in Berlin im Jahr 1885, als Afrika in mehrere Länder aufgeteilt wurde: Kongo, Gabun, Sambia, Simbabwe Marokko, Algerien, Senegal, Mosambik... Interessant, den Geburtsort eines Landes, die Mutterschaft meines Landes zu besuchen damit während weil ach so nachdem... Name: Asyl Vorname: Bewerber Adresse: Flüchtlingsheim Beruf: arbeitslos Land: noch nicht Geschlecht: Mischung Familienstand: manchmal ledig Freizeit: Einsamkeit Hobbys: Papiere drei Strophen und drei Kehrreime mein richtiger Name ist ein langes Lied er kann nicht auf meiner Geburtsurkunde meinem Reisepass meinem Ausweis stehen was für ein Schicksal einen gekürzten Namen zu tragen mir ist immer kalt obwohl im Dorf meiner Ururgroßtante die Sonne Mutter eines Zwillingspaares ist 68 _ZWISCHENWELT dort dauert der Tag sechzig Stunden dort ist ein Fest jede Nacht dort draußen essen die Leute zusammen Mutter, Schwester, Onkel, Bruder, Nachbarn Architektur der Poesie zwei Tische dekoriert mit Bier viele Teller voller Speisen ein Kofferradio, das die Musik spielt Fela Kuti oder Mozart, egal! man tanzt man singt man lacht man schreit man bringt neue Teller man raucht Zigaretten man erzählt Märchen man schmeißt Sprichwörter in den Wind man winkt den Mädchen zu man ruft den Bruder an man schaltet das Radio aus man schaltet das Radio ein man sieht fern man bringt weitere Stühle man öffnet Weinflaschen man nörgelt man pfeift man klatscht man verlängert die Tische man bringt mehr Löffel Gläserklirren Gabeln Salzstreuer manchmal, zwischen den Gesprächen, die ansteigen und abebben, ändert das Radio selbst die Frequenz aber das Leben geht weiter schöner als vorher weit entfernt von der Einsamkeit und dem ewigen Winter ich möchte mein Brot auf Lingala bestellen will jemand mit mir Lingala oder Tshiluba reden? die Seele treibt die Seele in die Höhle des schwarzen Schafes ich klettere auf meinen Stammbaum meine Vorfahren suchen weggefegt durch das Sperma der Kolonisierung Sehr geehrter Leopold II, wo sind die Hände meiner Urgroßmutter? ist es die Sintflut? der Fluss stürzt von oben