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REZENSIONEN Anna Helen Mahler-Aszkanazy (1893 — 1970) wuchs in einer ungewöhnlichen, nicht religiösen Familie in Wien auf. Ihr früh verstorbener Vater Sigmund Mahler war der Cousin des Komponisten Gustav Mahler, ihre Mutter Malvine war verwandt mit den Eisen- und Kohleunternehmern und Mäzenen David und Wilhelm von Gutmann. Anna Helen war das jüngste Kind und hatte fünf Brüder, und da ihr Bruder Benno für die Gutmanns arbeitete, berichtet sie einiges über diese Familie. 1918 heiratet sie Szymon „Wolf“ Aszkanazy, einen wohlhabenden Geschäftsmann. Sie beginnt wenig erfolgreiche Theaterstücke zu schreiben; für ihr Stück über Spinoza recherchiert sie in den Niederlanden. Sie bietet es dem Verleger Gottfried Bermann Fischer in Berlin an und trifft Albert Einstein. In Wien freundet sie sich mit dem Soziologen Rudolf Goldscheid an, wird Mitglied der internationalen Frauenliga für Friede und Freiheit und gründet die Politische Schule für Frauen. Die Beschreibung ihrer engen Freundschaft mit Irene Harand gehört zu den interessantesten Passagen des Buches. 1937 reist sie in die USA; ihre negative Schilderung der sephardischen Synagoge und ihrer Begegnung mit Rabbiner Stephen S. Wise, der ihr Geld für Irene Harand verweigerte, und seiner Frau Louise Waterman Wise zeigen, wie auch einige Stellen der Erinnerungen, ihr gebrochenes Verhältnis zu ihrer jüdischen Herkunft. Kurz nach dem „Anschluss“ Hüchtet sie über die Schweiz nach England. Ihr Mann wollte einige Tage später nachkommen; er wurde verhaftet und in einem Wiener Gefängnis ermordet. Mit einem farmers Visum gelingt ihr mit ihren beiden Töchtern die Einreise nach Kanada. In Kanada organisiert sie für einige weitere Flüchtlinge die Einreise und gründet die Womens School for Citizenship. Diese vorbildliche Edition der philosophischen Korrespondenzen von Günther Anders bietet einen faszinierenden Einblick in das Leben und Denken einiger der großen Philosophen des 20.Jahrhunderts. Die Herausgeber, Reinhard Ellensohn als Sekretär der /nternationalen Günther-Anders-Gesellschaft und Kerstin Putz als Mitarbeiterin der Österreichischen Nationalbibliothek, in der Anders Nachlass aufbewahrt wird, arbeiten schon seit vielen Jahren über den Philosophen. Berufliche Perspektiven des Briefschreibers werden diskutiert, zum Beispiel wenn Anders 1953 gegenüber Max Horkheimer das Angebot eines geistigen und künstlerischen Leiters des Studentenhauses der Technischen Hochschule in Stuttgart erwähnt. 1954 hält er in einem Briefan Helmuth Plessner fest, dass er an der Lehrtätigkeit an einer Universität durchaus interessiert wäre. Er habe Lehrleidenschaft, und auch wenn der Stil seines philosophischen Schreibens oft unakademisch sei, so sei das Unakademische bei ihm „streng und skrupelhaft“ geblieben. Adorno fragt 1963: „Was wollen Sie da, zu dieser politischen Stunde, in Wien anfangen? Ich vermeide den Kontakt mit Menschen, die Gemeinheiten begangen haben [...].“ Anders antwortet, dass Wien für ihn „vor allem Arbeitsplatz und headquarters“ sei, „denn ich bin ja sehr haufig im Ausland. Ein paar Männer sind hier, die absolut unantastbar geblieben sind, mit denen stehe ich freundschaftlich; ein paar Rückkehrer, die gleichfalls völlig in Ordnung sind; und viele Jugendliche, die keine Vergangenheit zu bewältigen haben, und die sehr erfreulich und durchaus erreichbar sind.“ Auch Herbert Marcuse und seine Frau Inge verstanden 1967 nicht, „warum Sie eigendlich in Österreich bleiben. Unser Eindruck von diesem Lande war vernichtend: bei weitem das reaktionärste in Europa.“ Marcuse war auch wütend über Anders Buch Wir Eichmannsöhne mit dem Argument: „Das geht nicht. Wir können es uns nicht mehr leisten, goodie-goodies zu sein und an das Gefühl und den Verstand gefühls- und verstandloser Bestien zu appellieren. [...] Sie sind ein kompromissloser Mensch - dafür habe ich Sie bewundert. Verschenken Sie sich nicht, indem Sie an die Henker Liebesbriefe schreiben...“ Ernst Bloch bekennt 1961 nach seinem Weggang aus der DDR: „Ulbrich, mit der Endstation Stacheldraht, hat nun endgültig soviel mit Marx gemein wie Hitler mit Nietzsche; cum grano salis.“ Wiener Leser werden ein Typoskript aus dem Nachlass einer Erklärung vom Oktober 1968 Mahler-Aszkanazys sehr lebendige und offenherzige Erinnerungen sind ein lesenswertes und interessantes Zeitdokument. Gewidmet sind sie ihrer Enkelin Jennifer Dolman in Vancouver, die auch ihre Publikation initiierte. Das Buch enthält Fußnoten von Ernst Grabovszki von Danzig & Unfried, aber leider kein Nachwort und keinen Index. Den Namen Ernst Grabovszki kennt die Rezensentin seit der Lektüre seiner Diplomarbeit Die Bemühungen des Paul-Zsolnay-Verlags um die Vermittlung jüdischer und amerikanischer Literatur in der Zwischenkriegszeit von 1993. E.A. Anna Helen Mahler-Aszkanazy: Wir tanzten auf dem Vulkan. Mein Leben in Wien 1893-1938. Wien: Danzig & Unfried 2022, 676 S., Euro 29,interessant finden, über die Anders mit Adorno korrespondierte. Die Erklärung, die von Intellektuellen unterschrieben hätte werden sollten, richtete sich gegen Äußerungen von Peter Weiser, dem Generalsekretär des Wiener Konzerthauses, in einem Interview mit Franz Endler in der Presse. Vertreter der modernen Musik wurden von Weiser „mit despektierlichen Ausdrücken belegt“. Namen nannte er zwar nicht, aber es „kann für niemanden ein Zweifel darüber bestehen“, dass Friedrich Cerha, Kurt Schwertsik und Györgi Ligeti gemeint seien. Die Erklärung wurde am Ende nicht veröffentlicht. E.A. Günther Anders: Gut, dass wir einmal die hot potatoes ausgraben. Briefwechsel mit Theodor WAdorno, Ernst Bloch, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Helmuth Plessner. Hg. von Reinhard Ellensohn und Kerstin Putz. München: C.H.Beck 2022, 458 S., Euro 39.10 SEPTEMBER 2023 73