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Satz eingeschoben: „Vom russischen Überfall auf die Ukraine erfuhren wir fast gleichzeitig mit der Diagnose, dass meine jüngste Schwester Brustkrebs hatte und Metastasen im Gehirn.“ Wahrscheinlich kennen die meisten Menschen mindestens eine Person in ihrem Umfeld, die einen Schlaganfall erlitten hat, eher sogar mehrere Personen. Was die Krankheit aber für Betroffene wirklich bedeutet, kann man als Außenstehender allerdings nur schwer nachempfinden. Genau diese Möglichkeit schenkt Renate Welsh aber nun ihren Leserinnen und Lesern mit ihrer autobiographischen Erzählung Ich ohne Worte. Die Möglichkeit, die Welt und die Erkrankung mit Brüchiges Schweigen ist die Lebensgeschichte der im KZ Ravensbrück ermordeten Anna Burger. Es ist die Geschichte einer Frau, mit der es das Leben von Beginn an nicht gut meinte. Einer von den Nationalsozialisten als „asozial“ eingestuften und schlussendlich mittels Giftinjektion umgebrachten Frau. Brigitte Halbmayr trug über einen Zeitraum von über zwei Jahren in Zusammenarbeit mit der Enkeltochter von Anna Burger alles zusammen, was auffindbar war, um ihre Biografie zu rekonstruieren: Erinnerungen der Nachkommen, insbesondere der Enkeltochter Siegrid Fahrecker, Dokumente wie den Ausweis des Schulbesuches, den Scheidungsakt oder Meldezettel ... Halbmayr zeichnet die Lebenslinien der Anna Burger nach, um zu ihrem Ursprung zu gelangen, Zusammenhänge zu erkennen, Klarheit zu erlangen. Doch die Linien sind brüchig, stellenweise verschwunden, Antworten bleiben aus. Die Spurensuche war mitunter schwierig für alle Beteiligten, besonders dann, wenn die Erinnerung der Nachkommen sich nicht mit den neu gewonnenen Informationen aus den Dokumenten deckte und Erinnerung und Fakten abgeglichen werden mussten. Geboren 1913, ein Jahr bevor der erste Weltkrieg begann, wuchs Anna in schr ärmlichen Verhältnissen in Klosterneuburg bei Wien auf. Aus ihrer Ehe mit Karl Burger gingen drei Kinder hervor, zwei weitere waren unehelich. Alle fünf Kinder wuchsen nur zeitweise bei Anna auf; früh wurden sie in die Obhut der Großeltern, später auch von Pflegeeltern gegeben. 1940 wurde der Scheidungsprozess in die Wege geleitet. Noch vor dem Gerichtstermin wurde Anna jedoch wegen eines Diebstahls verhaftet. Sie wurde zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt, kurz danach ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert und dort unter der Haftkategorie der „Asozialen“ eingeliefert. In einem Schreiben ihres noch Ehemannes Karl Burger an den Richter heißt es: [...] Ich führe nur mehr diese beiden Gründe an 1. Die Bestrafung mit einem Jahr Zuchthaus und 2. Die Verurteilung zum Konzentrationslager. Ich bin der Ansicht, dass dies allein Grund genug ist, um die Ehe aus dem alleinigen Verschulden der Frau zu scheiden. Denn solche Frauen sind es ja gar nicht wert, dass sie den Namen Frau noch weiter führen. (S.74.) Wie sehr Aussagen wie diese zu ihrer Deportation beigetragen haben, bleibt unklar. Die als „asozial“ oder „gemeinschaftsfremd“ eingeordneten Personen waren auch unter den Mithäftlingen stark stigmatisiert. Aber die Diebinnen, die Prostituierten und die ‚Arbeitsscheuen‘— mussten die nicht wirklich von der Gesellschaft weggesperrt und zu einer verantwortungsvolleren Lebensfiihrung angehalten werden? (S.89) Ansichten wie diese wurden noch lange nach 1945 in der Gesellschaft vertreten. Es fühlt sich so an, als würde Brigitte Halbmayr ihre Leserinnen und Leser an der Hand nehmen. Das tut sie in einer klaren Sprache mit klaren Sätzen. Sie nimmt uns mit auf die Wege, die sie während ihrer Recherche gegangen ist. Es wird deutlich, wie viele Lücken Geschichten wie diese haben; Informationen wurden vernichtet oder vorenthalten. Erinnerungen verblassen, die Beschäftigung damit geschieht spät. Trotz dieser Lücken ist es ein unheimlich dichtes Buch geworden; dicht an Informationen, die sehr gut miteinander verwoben wurden, um die Geschichte von Anna Burger zu erzählen. Halbmayr zeigt verschiedene Perspektiven, stellt manche Überlegungen an, wie es dort, wo Informationen fehlen, hätte gewesen sein können. Immer wieder tauchen offene Fragen auf, die einen innehalten lassen. Mit dem Kapitel „Auch Traumata werden vererbt“ berührt sie wichtige Aspekte des Umgangs mit Erfahrungen wie diesen und geht auf die Erinnerungskultur im Zusammenhang mit dem KZ Ravensbrück ein. Das Buch endet mit einem Zitat der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann: „Erinnern ist Arbeiten an der Zukunft“ (S.170.). Dieses Buch zu lesen ist Arbeit. Es ist wichtige Arbeit. An diesen lichtdurchfluteten Sommertagen wirkt das Erzählte weit von meiner eigentlichen Lebensrealität entfernt. Dann aber, wenn mich etwas berührt, fühlt sich Anna Burgers Schicksal plötzlich nah an. Ich tauche ein in eine Lebensgeschichte, in der viel Grausames, Schmerzvolles, Unfassbares ihren Augen, aus einer Innenperspektive zu sehen. Renate Welsh macht „sprachlos Erlebtes“ für andere erlebbar. Anna Weinkamer Renate Welsh: Ich ohne Worte. Roman Wien: Czernin 2023. 112 S., Euro 20,passiert ist, und trage diese Geschichte mit mir herum. Ich trage sie, wahrend ich mir den Weg zum Rosenhiigel im Salzburger Kurgarten bahne. Ich trage die Worte weiter, nachdem ich das Buch schon wieder geschlossen habe. Ich hebe gefallene Rosenblätter auf, trage sie zum Euthanasie-Mahnmal im Kurgarten. Ich lege sie auf die Marmorplatte, auf die Namen, neben die Namen, fremde, bekannte. Ich forme etwas. Später weht der Wind es wieder fort. Ich gehe zurück in mein Leben. Ich trage diese Geschichte mit mir herum. Zumindest dann, wenn ich kann. Leonie Lindinger Brigitte Halbmayr: Brüchiges Schweigen — auf den Spuren von Anna Burger. Wien: Mandelbaum Verlag 2023. 196 5. Euro 20,Anna Krommer Die Übersiedlung Machst Licht im fremden Raum, machst Pause. Ist es Heimkehr oder Vertreibung, oder Einkehr in einen Traum vergangener Zeit — zusammengetragenes Zuhause. Aus: Anna Krommer: Staub von Städten. Ausgewählte Gedichte. Hg. und eingeleitet v. Sabine Prem. Nachwort v. Walter Grünzweig. Mit Zeichnungen v. Peter A. W. Kubincan. Wien: Theodor Kramer Gesellschaft 1995. SEPTEMBER 2023 75