OCR
Wie schreibt man über ein Buch, das selbst ein Fragezeichen ist; fragend, wer die eigene Mutter gewesen war und wie man sie beschreiben könne? Denn mir will scheinen, dass der Klappentext nicht ganz recht hat, wenn es da heißt: „Wolfgang Hermann zeichnet ein berührendes Bild seiner Mutter“. Berührend fand ich weniger das „Bild seiner Mutter“ (das nicht so recht entstehen will), als vielmehr den Kampf des jungen Schreibenden (der erste Teil des Buches wurde bereits 1994, noch zu Lebzeiten der Mutter, verfasst), der, im Versuch, ein Bild von ihr zu geben, jene Widersprüchlichkeit oder Zerrissenheit lebendig werden lässt, die er mit Blick auf die Mutter, wie mir scheint: vergeblich, ins Bild zu setzen versucht. Das Schreiben also als Gleichnis dessen, worauf es aus ist? Und dessen Form dann, trotzdem, anrührt, schön ist, und (seltsame Gewissheit) irgendwie auch richtig scheint? Das Scheitern, das mir Lesendem den Sinn auftut, ist nicht gesucht. Denn tatsächlich möchte der Autor ein Bildnis seiner Mutter zeichnen. Wir dürfen uns den Schreibenden an jenem Ort denken, wo C£zanne in steter Wiederholung (‚realisation‘) seine Bildnisse des Mont SainteVictoire malte. Und die Spurensuche des Autors ist auch gerahmt von zwei Textstiicken, in denen der (von Peter Handke in der Lehre der SainteVictore beschworene) Beseligungsmoment des ‚nunc stans', des stehenden Augenblicks, spürbar, erahnbar wird: Mit den längeren Schatten der Platanen auf dem Cours Mirabeau verblassen langsam die Farben und der kühle Windhauch aus Nordwest, von den nach Arles reichenden Ebenen hinter Puyricard und weiter, von der Camargue und nordwärts, das Rhonetal hinunter, löst da und dort vereinzelte welke Blätter aus den Kronen der Platanen, manche von ihnen trudeln, für einen Augenblick schwebend, wie Drachen an Schnüren auf die Promenade, wo die dicht an dicht Gehenden unachtsam über sie hinweggehen. (7) Der langsame, wehmütige und doch so schöne Ton weicht aber, da es an die Aufzeichnung der Lebensstationen der Mutter geht, einem fast protokollarischen Stil, der vermutlich Stimme und Denken der Mutter wiedergibt; so, „wie sie sich in ihren ‚Rückblick‘ betitelten Aufzeichnungen ausdrückt“ (12). Auch versucht der Autor wohl, nichts hinzuzudichten und die rekonstruierbaren Geschehnisse vor seiner Zeit einfach so wiederzugeben, wie Mutter sie erzählte: Kindheit in den Dreißigerjahren; Dürftigkeit und Not nach dem Krieg; große Liebe zu jenem jungen Mann, den Mutter (Großmutter) als 76 _ZWISCHENWELT „dahergelaufenen Juden“ abtat. Als Leser fand ich mich in einem Widerstreit: Ich begriff, wie durch diese Sprache die Mutter selber sprach, wie gleichsam die Art des Darstellens einen Eindruck der so Denkenden (und auch ihrer Zeit) schuf; zugleich widerstrebten mir aber die so aller Poesie beraubten Sätze, die zuweilen nur zusammengekleisterte Redewendungen sind: „Alle zogen gemeinsam an einem Strang, und langsam lichtete sich der Horizont.“ (39) In dem (bewusst?) altväterischen Stil erfahren wir von einer energischen, die Probleme „beim Schopf“ packenden jungen Frau, die dem Vater den von den Franzosen nach Kriegsende abgenommenen BMW wiederbringt; die später den väterlichen Schreinereibetrieb gewinnbringend umsetzen wird; die „umgänglich“, „leutselig“, „gesellig“ war; die sich „mehr für das Zusammensitzen und Singen“, nicht für Politik interessierte; und die doch ihre große Leidenschaft, das Schauspiel, den Gesang, die Bühne, opferte und stattdessen einem Mann ihr Ja-Wort gibt, „der seine Frau am Herd und nicht allen Blicken preisgegeben auf der Bühne sehen wollte“ (20). Ihre Liebe hatte einem anderen gegolten, dessen verspätetes, weniger forsches Werben zu erwidern ihr aber ihr Stolz (und ihr rigider Katholizismus) nicht erlaubte. Die Gestalt des Ehemanns, Vater des Schreibenden, durchwirkt das Buch wie ein düsteres Gespenst. Er wird als strenger, unnahbarer, zusehends auch brutaler Mann beschrieben, der seine sozialistischen Prinzipien vor sich herträgt, diese aber sowohl beruflich (an die Oberen sich anbiedernd) als auch im Umgang mit seiner Familie (den ältesten Sohn schlagend, bis er gebrochen ist) verrät. Die Innerlichkeit der Mutter wird in diesem Buch weniger über bedachtsames Suchen nach Ausdrücken für ihr Sehnen und Lieben erschlossen (was diese direkten Beschreibungen betrifft, bleiben die oft seltsam blass oder in der Phrase stecken); über den Umweg des Vaters jedoch, und also indirekt oder als Negativ einer nicht beschriebenen Leerstelle, leuchtet dann eine Seele hervor, wie sie auf direktem (sprachlich-definitem) Weg kaum glaubhaft würde. Das Wesen als eine Ahnung des Nicht-Gewesenen? „So war unser Bild von ihr: Sie litt unter ihm.“ (65) Als Leser war ich während der ersten Hälfte des Buches enttäuscht. Wer war sie denn nun, diese Frau? Dann aber, an mein eigenes Verhältnis zu Vater und Mutter denkend, ging mir mehr und mehr auf, dass es mir kaum möglich wäre, nur einen einzigen stichfesten, unumstößlichen Satz über sie zu schreiben, der mir nicht fadenscheinig, seltsam hohl, ihres Da- und Gewesenseins beraubt, erschienen wäre. Und das Große an dem Buch Wolfgang Hermanns ist, dass er diese Erfahrung möglich macht, und dadurch eine Bewegung, eine Unruhe auslöst, die den Leser selbst auf die Frage zurückwirft: „Wer weiß, wer seine Mutter ist?“ — Das Ungenügen am hier Gesagten: Als sorge ein Mechanismus dafür, dass die Wörter, als gedachte eben noch richtig, niedergeschrieben insgesamt falsch klängen, sich gegen den Willen des Schreibenden umkehrten. // Beim Wiederlesen mancher Sätze erschrecke ich: Habe ich es wirklich so gemeint? Ich wollte es doch ganz anders sagen, war aber nicht dazu fähig. (80) Ich hatte mir ein Buch erwartet, in dem die Poesie das Kunststück vollbringt, das seltsame Leben der uns Nächsten (Warum teilen diese Zwei - trotz allem - ihr Leben?) verständlich oder doch spürbar, glaubhaft zu machen. Ich wurde enttäuscht. Die Kunst von Hermanns Buch ist vielmehr, diese Frage offen zu halten, das rätselhafte Leben der Mutter (auch des Vaters, der mir — so hoffnungslos verharmt — oft näher ging als seine Frau) ratselhaft zu lassen. — Das Buch bewegt, berührt; wenn auch anders, als es der Autor vielleicht selbst beabsichtigt hatte. Und am Ende scheint, „irgendwie, auf seltsame Weise“ (100), alles wieder gut geworden, und der (im letzten Teil, nach dem Tod der Mutter, nun ältere) Autor geht in die Weiten und überlässt sich jener Sprache, die so erhebend ist und traumend macht: Die schöne jetzt Vorübergehende, wiederauerstanden aus dem Baudelaireschen Gedicht, sie schreitet durch die eben beendete Niederschrift, fügt Licht hinzu, wo es daran mangelt, rückt da und dort ein Wort zurecht und lässt überhaupt dem Ganzen die nötige Luft zukommen. Durch ihre Augen auf den Weg gebracht, weitet sich mir die Brust, und ich blicke horizontwärts. Dort zieht jetzt, in V-Formation, eine verspätete Vogelschaft afrikawärts über die winterweiten Fluren. (82) Franz Schörkhuber Wolfgang Hermann: Bildnis meiner Mutter. Erzählung. Wien: Czernin 2023. 104 5. Euro 20,