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als Einwohner zählte und eine der Wiegen des Chassidismus war — hier begann Israel ben Elieser, genannt Baal Schem Tow, seine Tätigkeit. Sagnols Großvater besuchte im naheliegenden Städtchen Wijnitz die berühmte Jeschiwa, und der Vater seiner damaligen Freundin Samuel Hamersztajn hatte bis zum Zweiten Weltkrieg in Lwöw (heute Lwiw), der größten Stadt Ostgaliziens, gelebt. 1941 trat er der Roten Armee bei und überlebte als einziger seiner Familie den Holocaust. Doch waren all diese Orte für den Autor bis zur Auflösung der Sowjetunion gesperrt. Erst ab den 1990er Jahren konnte er sie dann mehrmals besuchen und alles dort Gesehene und Erlebte beschreiben. Einzelne Essays des Buches wurden bereits früher in verschiedenen französischen, f polnischen und ukrainischen Zeitschriften und Sammelbänden publiziert, hier werden sie zum ersten Mal in monographischer Form dargeboten. Strukturell ist das Buch in drei Kapitel aufgeteilt: „Galizien und Lodomerien“, „Czernowitz bei Sadagora“ und „Rückkehr nach Leopolis“. Das zweite Kapitel, das Czernowitz und der Bukowina gewidmet ist, findet seine Rechtfertigung darin, dass die Bukowina eine Zeitlang, nämlich von 1786 bis 1848, ein Bestandteil des Königtums Galizien und Lodomerien (als Distrikt Bukowina) war und somit eine administrative Einheit mit ihm bildete. Obwohl aus dem Buchtitel selbst nicht ersichtlich ist, welche Aspekte des facettenreichen Lebens Galiziens in den Vordergrund gerückt werden, stellt sich beim Lesen bald heraus, dass das Zentralinteresse Sagnols den immer wieder besuchten Orten der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Galiziens im Holocaust und somit der vollständigen Zerstörung ihrer existenziellen Grundlage und ihrer kulturellen Eigentümlichkeit gilt. Nur eine einzige Stadt bildet hier eine Ausnahme — Grodek, deren Synagoge unauffindbar blieb. Ein einfühlsamer Essay über dieses Städtchen steht völlig unter dem traurigen Stern Georg Trakls, der hier sein gleichnamiges Gedicht „Grodek“, eine Art „lyrisches Testament“ schrieb. Davon zeugt heute eine kleine Gedenktafel mit dem Profil des Dichters, die an der alten Feldambulanz angebracht ist, wo der Dichter während des Ersten Weltkrieges als Sanitäter der k. u. k.Armee die Schmerzen der schwerverwundeten Soldaten zu stillen versuchte, bevor er dann, selbst verwundet, an einer Überdosis Kokain in einem Krakauer Lazarett starb. Alle anderen Orte, die der Autor bereist, sind ihm in erster Linie durch ihre jüdische Geschichte wichtig- durch untrügliche Spuren jüdischer Existenz in Laufe von Jahrhunderten. Mit ihren Synagogen, Betstuben, Lehrhäusern, Friedhöfen, Gräbern; mit ihren religiösen Traditionen 82 _ ZWISCHENWELT und Ritualen, heiligen Büchern und sakralen Objekten; mit Ihren Geschlechterfolgern, Familiengeschichten, Rabbinerdynastien und berühmten Schriftgelehrten. Über zwanzig Städte Galiziens und der Bukowina sind hier vorgestellt: Lemberg (Lwiw), Zolkiew (Schovkva), Bels, Sambor, Brzezany (Bereshany), Podhaice, Stryj, Bolechöw, Drohobycz, Buczacz, Czortkiw, Stanislau (heute Iwano-Frankiwsk), Horodenka, Brody, Strussiw, Ternopil, Kossiv, Wyjnitz, Czernowitz, Sadagora. Jede dieser Städte und Städtchen besaß einmal eine blühende jüdische Gemeinde, hatte ihre eigene Physiognomie, ihr einzigartiges kulturelles Profil gehabt, was nicht selten durch die starke Präsenz der Juden erklärbar war, die in vielen von ihnen prozentuell mehr als die Hälfte der Bevölkerungszahl ausmachten. Sie haben zu der Entstehung einer schöpferischen multikulturellen Atmosphäre beigetragen, die bedeutende Talente in verschiedenen Sphären hervorbrachte — Künstler, Musiker, Dichter, deren Werke bis heute einen wertvollen Fundus der Weltkultur bilden. Sagnols Reiseschilderungen stützen sich dabei auf tiefgehende Recherchen und nennen Dutzende Namen von jüdischen Autoren, die in diesen heute westukrainischen Regionen geboren wurden oder eine längere Zeit gelebt und in verschiedenen hier vertretenen Sprachen geschrieben haben, so auf Polnisch wie Bruno Schulz, Jozef Wittlin, Julian Stryjkowski, Andrzej Kusniewicz, Zbigniew Herbert, Stanislaw Lem oder Artur Sandauer, auf Deutsch wie Natan Samueli, Karl Emil Franzos, Joseph Roth, Soma Morgenstern, Alexander Granach, Mans Sperber, Rose Ausländer oder Paul Celan, auf Jiddisch wie Debora Vogel, Itzig Manger oder Josef Burg, auf Hebräisch wie Samuel Josef Agnon oder Aharon Appelfeld. Dazu kommen noch Beschreibungen und Zeugnisse von nichtjüdischen Autoren, die diese Länder gelegentlich besucht oder sich dort heimisch gefühlt haben — von den frühen Erkundungen des französischen Wanderers Frangois-Paulin Dalairac, der Ende des 17. Jahrhunderts diese Regionen bereist und sie in seinen „Anecdotes de Pologne“ ausdrucksvoll beschrieben hatte, dem jiddischen Klassiker Scholom Alejchem, der auf seinem Weg nach Amerika eine Zeitlang in Galizien weilte, dem legendären Chronisten des Ersten Weltkrieges und der revolutionären Umwalzungen in Russland Isaak Babel — bis zum gebiirtigen Lemberger, dem skandalumwitterten Leopold Sacher-Masoch und dem aus Czernowitz stammenden Weltbummler und Kosmopoliten Gregor von Rezzori. Manche Werke dieser Schriftsteller finden Erwähnung in Sagnols Buch, sie werden hier reichlich zitiert und kommentiert, und so bekommen seine Essays den Charakter einer spannenden intellektuellen Lektiire, die weit hinaus über platte Reiseschilderungen führen und angeregte, gut fundierte kulturologische Forschungen darstellen, die außerdem auf zahlreichen authentischen Quellen beruhen und mit ausführlichen Fußnoten versehen sind. Zugleich werden diese Texte von einer reichen, bildhaften, einfühlsamen Sprache getragen, die mit höchster stilistischer Präzision und Sorgfältigkeit ausgefeilt ist. „Marc Sagnol ist nicht der erste — schreibt Wolf Lepenies —, der seit dem Epochenumbruch von 1989 Galizien als Kernregion der jüdisch-mittel- und osteuropäischen Kultur wiederentdeckt hat. Was ihn vor anderen auszeichnet, ist seine minutiöse, emphatische Beschreibungskunst, die auf unmittelbarer Anschauung beruht — und sich zugleich mit analytischer Tiefenschärfe koppelt. Verstärkt wird das Ganze durch familiäre Nähe zum Untersuchungsgegenstand und eine eindrucksvolle Sprachkenntnis. Und nicht zuletzt gehören dazu eine stilistische Sicherheit und ein sprachliches Feingefühl, die ihn von vielen Autoren, die sich mit Galizien befassen, auszeichnen.“? Dieser treffenden Charakteristik kann man sich durchaus anschließen. Zu den zweifellosen Stärken des Buches gehören auch ausdrucksvolle schwarzweife Fotos, die vom Autor selbst stammen (Sagnol hat sich übrigens auch als Filmregisseur profiliert - sein Dokumentarfilm über Transnistrien „Les eaux du Boug“ / „Die Wasser des Bug“ wurde in einigen europäischen Metropolen mit Erfolg aufgeführt). Es gibt aber in diesem Buch auch etwas, was mich beim Lesen immer wieder stört — eine durchgehende, explizit ausgedrückte antiukrainische Position des Autors, seine nicht verhehlte Abneigung gegen alles Ukrainische, sowohl geschichtlich, als auch politisch und kulturell. Der Stein des Anstoßes liegt auf der Hand — das ist die angeblich fast angeborene antisemitische Einstellung der Ukrainer gegen die Juden - ein Mythos der sowjetischen Propaganda, der leider auch heute noch in Russland oder unter den russischsprachigen Juden in Israel lebendig ist. Die zeitweilig reale, in vielen Fällen jedoch auch nur vermeintliche Kollaboration der ukrainischen Bevölkerung mit den deutschen Nazis während des Zweiten Weltkrieges bildet in Sagnols Buch einen besonderen Schwerpunkt. Daraus resultieren permanente, geradezu leitmotivisch gewordene Vorwürfe gegen die Ukrainer, die oft nur als extreme Nationalisten und Helfershelfer der Nazis dargestellt werden. So sieht der Autor in Lwiw eine Gedenktafel, die an die „Proklamation des pro-nazistischen ukrainischen Staats vom 30. Juni 1941“ erinnert und die Erfolge der deutschen Wehrmacht und ihres ukrainischen Bataillons „Nachtigall“ feiert (S. 40); bei der Ausstellung in einem kleinen landeskundlichem