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NKVD-Agenten in München ermordet. Das tragische Schicksal traf auch andere Mitglieder seiner Familie: zwei seine Brüder hatte man bereits 1942 in Auschwitz umgebracht, sein Vater, ein griechisch-katholischer Priester, wurde später von den Sowjets getötet, zwei Schwestern verschickte man lebenslang nach Sibirien. Beim Nürnberger Prozess wurde Bandera nicht als Kriegsverbrecher angeklagt, nach dem Krieg lebte er legal, obwohl unter fremdem Namen, in der Bundesrepublik Deutschland. Sein negatives Bild, verschen mit beinahe dämonischen Zügen, prägte vor allem die sowjetische und später die russische Propaganda, die die Begriffe „Bandera“, „Banderowzy“ auch heute als böses politisches Schimpfwort verwendet, um die Ukrainer zu diskreditieren. Die letzten öffentlichen Befragungen zeigen aber, dass seine Popularität als Kämpfer für die Freiheit der Ukraine wächst, und die absolute Mehrheit der Bevölkerung des Landes ihn als nationalen Helden betrachtet. Wie jede historische Gestalt hat er natürlich auch viele Schattenseiten, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Das letzte Wort bei der Einschätzung seiner Rolle in der ukrainischen Geschichte soll jedoch den Historikern gehören. Momentan hat er eine Lücke ausgefüllt, die kein anderer ihm abstreiten kann, und so ist er heute zum Sinnbild ukrainischer Unabhängigkeit und Banner des Widerstands gegen die russische Aggression geworden. Bei all seiner sachlichen Genauigkeit und Akribie ist das Buch Marc Sagnols von manchen faktologischen Fehlern nicht frei oder stützt sich manchmal auf veraltete Angaben, die mittlerweile schon überholt sind. So behauptet er bei der Beschreibung der schönsten historischen Synagoge von Zolkiew, dass ihr Dach gestohlen worden sei und das Innere „wie ein Schiff in Seenot schutzlos der Witterung preisgegeben ist und weiter verfällt“ (S. 42), weswegen er sich des Gedankens nicht erwehren kann, dass „die Verschleppung der Restaurierung der Synagoge nichts anderes ist als eine stillschweigende Fortsetzung der „Endlösung“ durch Nichtstun, eine gewaltsame Shoah der Erinnerung“ ($. 45). Im Zusammenhang mit dem von der Berliner Künstlerin Helga von Loewenich und mir betreuten deutsch-ukrainischen Kulturprojekt „Bukowinisch-Galizische Literaturstraße“ haben wir in den letzten Jahren die Stadt mehrmals besucht und die alte Synagoge besichtigt, daher kann ich sagen, dass sie auf der Liste des Kulturerbes der Ukraine steht, inzwischen ein neues Dach bekommen hat und auf diese Weise konserviert wurde, um vor weiterer Zerstörung geschützt zu werden. Am 18. Juni 2021 wurde vor der Synagoge sogar eine Bronzebüste für die gebürtige Zolkiewerin, die Schweizer Schriftstellerin Salcia Landmann, enthüllt, eine 84 _ ZWISCHENWELT hervorragende Kennerin der jiddischen Sprache und Verfasserin der berühmten Anthologie „Der jüdische Witz““. Auch die Information über das bekannte jiddische Lied „Mein stetele Belz“ führt etwas in die Irre und benötigt eine gewisse Korrektur. Es bezieht sich nicht auf das an der polnischen Grenze gelegene galizische Städtchen Bels, wie auf S. 45 behauptet wird, sondern auf die bessarabische Stadt Bälti (ebenfalls Belz ausgesprochen) in der heutigen Republik Moldau, die noch bis Ende der 1930er Jahre eine große jüdische Gemeinde hatte (weit über die Hälfte der Bevölkerung) und die im Laufe des Zweiten Weltkrieges total ausgelöscht wurde. Im Kapitel über die Bukowina wird der Weg von Lemberg nach Czernowitz beschrieben, der über Stanislau und Kolomea, dann über „die Kleinstadt Zablotow“ (wo übrigens ein kleines Denkmal für Manes Sperber steht), und „das Dorf Snjatyn“ führt (S. 150). In der Tat ist es gerade umgekehrt: Zablotow, das einmal ein jüdisches Schtetl war, das Manés Sperber in seinem Erinnerungsband „Die Wasserträger Gottes“ (der erste Teil seiner Trilogie „All das Vergangene...“) so farbenreich schildert, ist heute ein größeres Dorf, während Snjatyn eine bereits in der Mitte des 12. Jahrhunderts urkundlich erwähnte Stadt mit bewegter, reicher Geschichte istund seit 1448 das Magdeburger Recht besaß. Etwas verwirrend wirken auch die Angaben über den Geburtsort des Begründers der berühmten chassidischen Rabbinerdynastie von Sadagora, den „Wunderrabbi“ Israel Friedmann, der aus Ruschyn stammt (deswegen wurde er auch als Ruschyner oder Rischyner genannt). Allerdings ist es nicht das heutige Rushany in Weißrussland, wie der Autor meint (S. 176), sondern das kleine Städtchen Ruschyn in der Ukraine, in der Nähe von Berdytschiw. Eben dort residierte er zuerst, bevor er nach einem spektakulären Gerichtsprozess wegen zwei angeblicher Morde, die ihm von den zaristischen Behörden angelastet wurden, 1842 in die damals österreichische Bukowina floh und sich im Marktflecken Sadagora niederließ, wo er eine prächtige Synagoge für etwa 3.000 Beter und einen ansehnlichen Palast für seine vielköpfige Familie bauen ließ. Dort genoss er wegen seiner Weisheit und prophetischer Gabe beinahe königliche Ehren, wovon Karl Emil Franzos, Leopold Sacher-Masoch, Martin Buber, Klara Blum, Rose Ausländer und andere Autoren aus Galizien und der Bukowina in ihren Werken erzählen. Auch das Czernowitzer Geburtshaus von Paul Celan mit der Gedenktafel des Dichters, das auf einem Foto im Buch abgebildet ist (S. 159), stimmt nicht mehr, denn es hat sich inzwischen als das „falsche“ Geburtshaus erwiesen, sodass die Gedenktafel im Jahre 2020, zu Celans 100. Geburtstag, feierlich an das nächste Haus übertragen wurde. Genauso ist die Behauptung von der einzigen noch als solche genutzten kleinen Synagoge in der Lukian-Kobelitza-Straße von Czernowitz (S. 173) bereits überholt, denn seit Jahren hat die Stadt noch eine größere, musterhaft restaurierte Synagoge mit einer koscheren Küche in der Sadowski-Straße, wo ein vor Jahren aus Amerika gekommener Rabbiner Gottesdienste abhält. Selbst der Davidstern über der mächtigen Kuppel der’Irauerhalle auf dem jüdischen Friedhof steht nicht mehr schief ($. 174), denn das Gebäude wurde vor einigen Jahren neu überdeckt und schön saniert, dort soll ein jüdisches Geschichte- und Kulturzentrum entstehen. Das Buch Marc Sagnols ist in seiner unverhüllten Tristesse eine Art Kaddisch für das ausgelöschte galizische Judentum. Man empfindet als Ukrainer ein kaum unterdrückbares Schamgefühl, nachdem man die letzte Seite dieser Reisebilder gelesen hat. Es gibt aber in der letzten Zeit auch einige hoffnungsvolle Zeichen, die darauf hinweisen, dass die zwischen den Juden und den Ukrainern im Laufe der Jahrhunderte entstandenen Klüfte sich allmählich zu schließen beginnen. Dazu ermutigen die Aktivitäten des Ukrainischen Judaica-Instituts in Kiew, das bereits in den ersten Jahren ukrainischer Unabhängigkeit gegründet wurde und seitdem eine große aufklärerische Arbeit anada, oder des Kiewer „Zentrums für Erforschung der Geschichte und Kultur des osteuropäischen Judentums“, das eine enorme forscherische, kulturelle und verlegerische Tätigkeit entfaltet hat und im engen Kontakt mit dem Verlag „Duch i Litera“ hunderte von Büchern zur jüdischen 'Ihematik publizierte. Dazu ermutigen die Initiativen der 2008 gegründeten internationalen Stiftung „Ukrainian-Jewish Encounter“, mit ihren Vertretungen in Kanada und der Ukraine, die seitdem zahlreiche Ausstellungen und Tagungen zu den Problemen der ukrainisch-jüdischen Beziehungen in mehreren Ländern organisierte, oder das bereits oben erwähnte deutsch-ukrainische Kulturprojekt „Bukowinisch-Galizische Literaturstraße“, in dessen Rahmen in den letzten Jahren 13 Denkmäler für deutsch-jüdische und hebräische Schriftsteller in verschiedenen Orten Galiziens und der Bukowina enthüllt wurden. Man kann heute in der Ukraine keine antisemitischen Ausschreitungen vorfinden, die in manchen westeuropäischen Ländern ihre abstoßende Fratze wieder zeigen. Und die heutige Generation der Ukrainer ist fest entschlossen, diesen gefahrlichen Tendenzen mit unablassiger Wachsamkeit entgegenzutreten, um jeden Versuch der Wiederholung der schrecklichen Vergangenheit im Keim zu ersticken. Petro Rychlo