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Sonja Pleßl August 2023, Dallein, Waldviertel Dorffest in Dallein, in dem ich aufgewachsen bin, einem Dorf, 14 Kilometer von Schaffa entfernt, dem ersten Dorfim Nachbarland Tschechien. Ich treffe zwei Frauen in meinem Alter, Mitte vierzig, deren Oma in Langau wohnt, dem österreichischen Nachbardorf von Schaffa. Erst vor einer Woche spazierten mein Mann Konstantin Kaiser und ich über diese Grenze, denn unsere Tochter Taina wollte mit dem Rad fahren und das geht auf der Landstraße zwischen Langau und Schaffa gut. In Schaffa lockten außerdem zahlreiche Schwäne am Dorfteich, die dort mehr Ruhe haben als in Geras. Ein kleines Hinweisschild im Wald zwischen Tschechien und Österreich: das Grenzzeichen. Ich erzählte Taina, dass hier der Eiserne Vorhang war. In diesem Wald haben meine Eltern nie Schwammerl gesucht. Wie soll sich ein achtjähriges Mädchen, das am Radl auf einer Landstraße Ausschau nach Brombeeren hält, vorstellen, dass Menschen in einem ganzen Land eingesperrt waren? Beim Zurückfahren fragte sie mich, ob auf den Feldern so nah an der Grenze jemand gearbeitet hat. Ich weiß es nicht. Also frage ich beim Dorffest die beiden Frauen, deren Oma Bäuerin war. Das wissen sie auch nicht, aber an eines können sie sich gut erinnern: dass die Oma Angst hatte und ihren Eltern einschärfte, die Grenze im Auge zu behalten. „Nicht zu nahe!“ „Wie war das für Euch?“ frage ich, denn für mich, als ich im Alter meiner Tochter war, endete hinter Langau nicht nur Österreich, sondern die Welt. Dahinter war nichts. Die beiden Frauen sagen: „Genauso war es für uns auch. Dahinter war es aus.“ Unser Kindheitsgefühl entspricht dem, was die estnische Premierministerin Kaja Kallas auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2023 ausdrückte: „Und Ihr habt uns nicht vermisst.“ Kaja Kallas ist in unserem Alter. Als sie ein vierzehnjähriges Mädchen war, rollten russische Panzer nach Estland. Das war 1991, das Jahr, in dem ich in der „Neigungsgruppe“ der Schule eine Woche vor Ferienbeginn in Langau reiten lernte und an der Spitze der Sowjetunion Gorbatschow stand. Kaja Kallas war bei ihren Großeltern am Land und hatte Todesangst um ihren Vater. Dass ihn die Russen verschleppen würden. Kaja Kallas Mama ist zwei Jahre jünger als mein Mann und als Baby mit ihrer Mutter nach Sibirien deportiert worden: zehn Jahre Sibirien. Dass das Baby überlebte: ein Wunder. Verbrechen der Familie: Der Großvater hatte für ein unabhängiges Estland gekämpft. Der Unterschied zwischen den ZeitzeugInnen von vor und hinter dem Eisernen Vorhang ist, dass uns in Österreich, die wir davor waren, etwas geblieben ist: Der Dünkel, wir wären mehr wert als die, die unfrei waren. Als wären wir dadurch, dass wir nicht in den „sowjetischen Einflussbereich“ gerieten, auf eine geheimnisvolle Weise intelligenter gewesen. Schaffa ist mit dem Rad eine halbe Stunde von Dallein entfernt. Den jüdischen Friedhof besuchte ich das erste Mal als Studentin Anfang der 2000er Jahre, mit Robert Schindels 1995 erschienenem Büchlein im Rucksack „Gott schütz uns vor den guten Menschen. Jüdisches Gedächtnis - Auskunftsbüro der Angst“ radelte ich von Dallein nach Goggitsch (2,6 km), über den Feldweg nach Geras (2 km), nach Langau (5,3 km) und Schaffa (4 km). Eine Tafel am Friedhof informiert über die Geschichte. Es war ein katholischer Pfarrer, Pater Andreas aus Langau, der sich für die Restauration und die Pflege des Friedhofs eingesetzt, ein Buch über Schaffa geschrieben und Begegnungsmöglichkeiten für österreichische und tschechische Jugendliche geschaffen hat. Heute hilft er der Ukraine. Ich weiß noch genau, wie ich mir den Text auf der Tafel „kritisch“ durchlas und dachte: religiös — antikommunistisch — eh klar! Schindel schreibt: „Zwei deutsche Dichter ziehn mich weg von Majakowski. [...] Von Schiller lerne ich das Pathoswort Freiheit neu [...] Mir geht es an diesem, seinem Geburtstag [des Friedens], um das Problem der IdeologieInfektion. [...] Die Ideologie-Infektion hatte Blutgesauf zur Folge, und in diesem Jahrhundert standen die großen und kleinen Führer zuhauf an der roten Tränke.“! Vor 1968 trat Schindel aus der kommunistischen Partei aus. Aber erst in den 70er Jahren zog er nach einer intensiven Auseinandersetzung mit den Moskauer Schauprozessen endgültig seine Schlüsse. Rund um das Jahr 1989, ich war noch in der Hauptschule, erzählte mir mein Opa, dass seine Mutter einen tschechischen Freund hatte, damals, in der Zwischenkriegszeit, als Znaim in Tschechien die nächstgelegene schöne, große Stadt war, in die man sich begab, wenn es galt, etwas Besonderes einzukaufen. Urgroßmutter war eine Frau, die bis ins hohe Alter Gedichte aufsagen konnte, ihr Lehrer hatte sogar bei ihren Eltern vorgesprochen, damit sie weiter zur Schule gehen und Lehrerin werden kann. „Die Eltern“ - beide oder bloß der Vater? - lehnten ab, Urgroßmutter heiratete schließlich einen Mann aus der Gegend, der sich eine Tischlerwerkstatt aufbaute. (Sie war so sparsam, heizte kaum ein, „das zahlt sich nicht aus“, sagte sie, sodass ihr Ehemann im Winter die Mütze nicht abnahm, wenn er zum Mittagessen ins Haus kam.) Urgrofmutter führte die kleine Landwirtschaft ihrer Eltern weiter. Gern war sie Bäuerin, hieß es, jeden Sonntag sammelte sie am Nachhauseweg von der Messe Pferdemist zum Düngen für den Gemüsegarten. Ich glaube, sie wäre tatsächlich beides gern gewesen: Lehrerin und am Bauernhof. Die Briefe, die sie und ihr tschechischer Freund einander geschrieben hatten, sind leider nicht mehr erhalten. Ihre Tochter hatte nach Wien geheiratet, in der kleinen Gemeindebauwohnung war wenig Platz, die Schachtel mit den Briefen wurde entsorgt. Für mich war die Geschichte spannend, aber irreal: Das Damals lag hinter der mir denkbaren Zeit. Über ihren tschechischen Ex-Freund weiß ich leider: nichts. Gerd Koenen, einer der besten Kenner der Geschichte des Kommunismus und Russlands, der mit dem ukrainischen jüdischen Schriftsteller Lew Kopelew zusammenarbeitete, schreibt in seinem 2023 erschienenen Buch „Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland“ über Europa: „Menschen und Länder, die nie derart hätten getrennt werden dürfen und können.“? Viel wäre in Österreich gewonnen, spürten wir den Schmerz des Auseinandergerissenwordenseins der Länder und Menschen Europas. Ich habe zwei Mal kommunistisch gewählt, ohne mich für die Verbrechen des Sowjetkommunismus zu interessieren, vom „Das Schwarzbuch des Kommunismus“ des französischen Historikers Stéphane Courtois hatte ich gehört, es aber nie besorgt (inzwischen vergriffen), ebenso wenig wie Gerd Koenens „Utopie der Säuberung — Was war der Kommunismus?“ Dass die Europäische Union 2009 den 23. August als Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer totalitärer und autoritärer Regime ins Leben gerufen hat, habe ich auf der Universität bei einer Professorin gehört, die sich für die Dissidentenbewegungen interessierte und von der Menschenkette in den baltischen Ländern zur SEPTEMBER 2023 87