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Erringung ihrer Unabhängigkeit erzählte, aber der Tag entschwand sogleich wieder aus meinem Gedächtnis. Ich wiederentdeckte ihn 2023. Dabei ist der Europäische Tag des Gedenkens an die Opfer totalitärer und autoritärer Regime auch eine Anerkennung von Widerstand. Verbunden mit dem Gedenktag ist die Förderung von Projekten durch die EU, die Licht in die Ursachen totalitärer Regime bringen: „[In den Blick genommen werden dabei insbesondere der Nationalsozialismus, aber auch Faschismus, Stalinismus und totalitäre kommunistische Regime.“? Das ist der kleinste gemeinsame Nenner, der das „Friedensprojekt“ Europa zusammenhilt: Menschenrechte sind unteilbar und gelten auch für die Menschen, die einst hinter dem Eisernen Vorhang eingesperrt waren. „Revolution documentaire“ nennt Stephane Courtois die Zeit seit der Aktenöffnung, erméglicht durch den Zusammenbruch der Sowjetunion. In der Russischen Föderation war diese Zeit eine kurze, Courtois, der Anfang der 90er in den Moskauer Archiven saß, bemerkte bereits einige Jahre später, dass er in Russland unter Beobachtung stand und reiste nicht mehr in die Russische Föderation. Unter Putin wurde die Arbeit in den Archiven schwieriger, inzwischen unmöglich. Memorial, das Helsinki Komitee, das Sacharow Zentrum und Golos, die Bewegung zum Schutz der Wahlrechte, sind zerschlagen; mit dem unwiederbringlichen Verlust von Akten muss gerechnet werden. Archivarbeit ist ebenso unmöglich oder lebensgefährlich geworden in: Belarus, Tschetschenien, Transnistrien, und dem russisch besetzten Teil Georgiens. In den Ländern aber, wo der Kreml nicht mehr und nicht wieder seinen Stiefel hingesetzt hat, sind wissenschaftliche Arbeiten möglich geworden, die drei Generationen lang — Großeltern - Eltern — Kinder - unvorstellbar waren. Die „revolution documentaire“ bringt Vergessenes ans Licht, aber vor allem Beweise gegen das Lügengespinst. Ich kann kaum lesen und schreibe auf einfache Art, aber was ich schreibe, ist wahr, und die Wahrheit wird das Böse besiegen, sagt man. Petro Drobylko, Provinz Sumy, 19334 „Unter der Sonne der Großen Sozialistischen Revolution findet ein erstaunlich schnelles, nie zuvor gesehenes Bevölkerungswachstum statt“, schreibt Stalin 1937, als der sowjetischen Volkszählung acht Millionen Menschen fehlen’, worauf sie nie veröffentlicht, sondern der Direktor des Volkszählungsamtes erschossen wurde und mit ihm seine engsten Kollegen. Eine in Gang gesetzte Repressionswelle setzte sich in der Ukraine, in Kasachstan, in den russischen 88 _ ZWISCHENWELT Provinzen bis nach unten fort, Hunderte von kleinen Volkszählungsbeamten werden inhaftiert, manche hingerichtet; Menschen, die die Zahlen auch nur gesehen haben könnten, werden verfolgt. Der Herausgeber von „Sowjetstatistik“ in Kiew, Mychajlo Awdijenko, wird im September 1937 hingerichtet.‘ 1956 verurteilte Chruschtschow in seiner berühmten „Geheimrede“ den stalinistischen Personenkult und den Großen Terror von 1937/1938. Über den Holodomor schwieg er. Sechs Jahre zuvor hatte Chruschtschow die ukrainische KP übernommen.” Das tödlichste Jahr des Holodomor war 1933: 90 Prozent der Hungertoten in der Ukraine starben in diesem Jahr. Die tödlichsten Monate des Jahres 1933: Mai, Juni, Juli. Das sind die Monate, in denen die Ukraine blüht, Kirschbäume, Marillenbäume, Paradeiser, Wassermelonen, Getreidefelder. Zwei Drittel der Böden der Ukraine sind Schwarzerde, die fruchtbarste Erde überhaupt. Die durchschnittliche Lebenserwartung vor 1932 betrug bei Frauen auf dem Land 45 bis 48 Jahre, (in der Stadt 47 bis 52 Jahre), bei Männern 42 bis 44 Jahre (in der Stadt 40 bis 46). Die 1932 Geborenen hatten nur mehr eine durchschnittliche Lebenserwartung, egal ob in der Stadt oder am Land, von 30 Jahren bei Männern und 40 Jahren bei Frauen. Für die 1933 Geborenen hatten Frauen und Männer diese Lebenserwartung: Frauen — 8 Jahre, Männer - 5 Jahre.° Als „Kulaken“ wurden zuerst jene Bauern bezeichnet, die zeitweise Arbeiter hatten oder Lagerräume mieteten. Dann wurden Podkulatschniki? erfunden, arme Bauern mit verwandtschaftlichen, nachbarschaftlichen oder wirtschaftlichen Verbindungen zu Menschen, die in die „Klasse“ der Kulaken fielen. Dann wurden die mit „Kulakencharakter“ erfunden (zB verarmte Kinder). Dann waren alle, die sich wegen Kritik, Murren oder ausgesprochener Wahrheit nicht zur Umerziehung eigneten, Kulakenpack. Zuerst wurden Getreideabgabequoten festgesetzt, die unmöglich zu erfüllen waren. Dann wurden Strafzahlungen verlangt und Kredite zurückgefordert. In den Kolchosen wurde ein totales Abhängigkeitssystem eingeführt: Geld konnte keines verdient werden, die Kolchosleiter gaben Lebensmittel und Güter aus, je nach Qualität und Quantität, die der getanen Arbeit beigemessen wurde. Darüber hinaus wurden die Menschen an ihren Wohnort gebunden. Zuerst wurde alles Getreide genommen. Dann das Viehfutter. Dann das Saagut. Am 7. August 1932 erließ Stalin ein Gesetz, dass öffentliches Eigentum als „heilig und unantastbar“ definierte, dazu zählten Feldfrüchte usw., als Strafmaßnahme für Diebstahl sei „das höchste Maß sozialer Verteidigung anzuwenden: Erschießung [...]' Rund um die Felder wurden Wachtürme errichtet. Kleine Kinder, fünf, acht, zehnjährige, die auf den abgeernteten Feldern ihrer Eltern liegen gebliebene Ähren oder Erdäpfel aufsammelten, wurden geprügelt und davongejagt, wenn sie Glück hatten, oder umgebracht. In der ganzen UdSSR warnten Geheimpolizisten vor der „neuen Taktik der Kulaken“, zu der jetzt „fingierte“ Klagen über den Hunger gehörten, es wurde angewiesen: „Wo ein Fall von fingiertem Hunger ans Licht kommt, sind die Täter als konterrevolutionäre Elemente anzusehen.“'' Distriktfunktionären, die nicht genug eintrieben, wurde eine „rechte Haltung“ vorgeworfen.'” Das schon aus den Getreideeintreibungen von 1919-1921 bekannte System der „Schwarzen Listen“ wurde ab 1932 wieder eingesetzt, im November ausgeweitet. Ab da umfasste es Dörfer und Kolchosen in fast jedem ukrainischen Distrikt, mindestens 79 Distrikte standen vollständig auf der schwarzen Liste. Schwarze Liste bedeutete: Totales Handelsverbot, Säuberung. „Im Gegensatz zu Russland und Weißrussland, wo nur Getreideproduzenten auf schwarzen Listen landeten, konnte es in der Ukraine fast jede Körperschaft treffen [...] Das betraf nicht nur Bauern, sondern auch Handwerker, Krankenschwestern, Lehrer, Angestellte, Beamte und alle.“ Die Gartenparzellen der Bergleute im Donbas wurden beschlagnahmt." Alle, die noch lebten, gerieten unter Verdacht, denn wer lebte, hatte zu essen. Eine Brigade, die in der Provinz Tscherkasy ein Haus nach dem anderen durchsuchte, fragte in einem: „Wie ist es möglich, dass noch niemand in dieser Familie gestorben ist?“'* Die Sprache wurde immer brutaler: „Warum seid ihr noch am Leben? Warum seid ihr noch nicht tot umgefallen? Warum lebt ihr überhaupt noch?“'® Dezember 1932: Einführung eines internen Passregimes. Jeder, der in der Stadt wohnte, brauchte einen besonderen Ausweis als Aufenthaltsgenehmigung, Bauern explizit davon ausgeschlossen. Im Jänner 1933 dann der Schlag gegen die Flüchtenden: Die Grenzen der Ukraine werden geschlossen, „mobile Patrouillen“ eingerichtet, „Fluchtorganisierer“ enttarnt, Sperrtrupps riegeln die Orte ab. Eintreibungsbrigaden töten alle Hunde in den Dörfern. Dann reißen sie das Obst und Gemüse aus den Gärten. Mit Eisenstangen bewaffnet durchsuchen sie alles nach Essbarem, unter Dielen, in Wiegen, unter frischen Erdgruben. Frauenbrigaden kommen und greifen den Bäuerinnen in den Ausschnitt, und als sie bemerken, dass in den Schnullern der Babys Brei ist, reißen sie sie ihnen aus den Mündern. Sie schleudern die Töpfe vom Herd, amüsieren sich über die weinenden Kinder, die