OCR
die Umstände sind schließlich vergleichbar. (S. 176-177) Beifall erhält Putin erstaunlicherweise auch von Seiten der Linken, die ihn, ganz im Sinn der russischen Propaganda, als Retter vor einem neuen Faschismus betrachten. [...] Die Beweise für den angeblich in der Ukraine übel riechenden Blüten treibenden Faschismus und Antisemitismus sind denkbar dünn, bei genauerem Hinsehen findet man aufall diesen Propagandaprodukten, wie bei billigen Uhren, den Hinweis: Made in Russia. Und der ist nicht einmal gut versteckt. [...] Dagegen konnten und können ukrainische Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle, aber auch Vertreter jüdischer Organisationen in der Ukraine noch so oft protestieren [...] (S. 179). Wie kommt es, dass ausgerechnet die Antisemitismus-Vorwürfe gegen den Maidan und die neue Ukraine bei Intellektuellen im deutschsprachigen Raum auf so fruchtbaren Boden fallen? Hat das mit dem, möglicherweise unbewussten, Versuch zu tun, die historische Schuld des eigenen Landes, in diesem Fall Österreichs, auf andere, zum Beispiel die Ukraine, abzuwälzen? [...] In einem auf der Homepage der Jerusalem Post publizierten Blog schreibt der Vorsitzende der Anti-Defamation League, Abraham Foxman, dass Russland in der ukrainischen Krise „die Antisemitismus-Karte spielt“. [...] Abraham Foxman scheut sich auch nicht, die Argumentation Putins zur Rechtfertigung der Annexion der Krim mit Hitlers Lüge in Bezug auf die angebliche Unterdrückung der Sudetendeutschen zu vergleichen, mit der er die Zerschlagung der Tschechoslowakei zu rechtfertigen suchte. [...] Ähnlich argumentiert Amelia M. Glaser, Professorin für russische Literatur an der Universität of California und Autorin eines hervorragenden Buches über Juden und Ukrainer in Russlands literarischen Grenzgebieten, in einem Beitrag in der New York Times, betitelt: „Putin‘s Phantom Pogroms“. [...] Warum fällt es ausgerechnet linken Intellektwuellen in diesen Tagen so schwer, einen einigermaßen vernünftigen (und redlichen) Diskurs zu führen? [...] Auf dieses Geschäft versteht sich der ehemalige KGB-Offizier. [...] Wie werden die Putin-Versteher reagieren, wenn er seine unverhiillten Drohungen wahr macht und zuerst die Ostukraine weiter destabilisiert, um dann nach irgendeinem inszenierten Vorfall einzumarschieren [...] Werden die westlichen Intellektuellen auch dann weiterhin Verständnis äußern und davor warnen, Putin in die Ecke zu treiben? [...] Um eine weitere Eskalation zu verhindern, muss Europa, muss die Welt Putin auf der Stelle energisch entgegentreten, um seine Ambition zu stoppen. Sonst droht ein böses Erwachen. 28. März 2014“ Das Buch mit Martin Pollacks Beitrag über 2014 ist 2014 im Suhrkamp Verlag erschienen. Februarbeginn 2023. Bald ein Jahr Krieg gegen die Ukraine. UkrainerInnen erinnern an den Krieg. Jemand postet das Foto, das mir nie aus dem Kopf ging: Ein Bub, sechs Jahre, stehend am Grab, Butscha. Der Gesichtsausdruck des Buben. Der Bub bringt seiner toten Mutter jeden Tag eine Dose Konserven. Im Sommer war der Bub auf Traumabehandlung in Spanien, gemeinsam mit anderen Kindern aus der Ukraine. Olena Selenska setzt sich besonders fiir psychologische Hilfe ein und so war das landeriibergreifende Hilfsprojekt ins Leben gerufen worden, das zu ,,100 Prozent* hilft, wie sie einige Monate danach postete. Zuerst dachte ich mir: Muss ein sprachliches Missverstandnis sein, 100 Prozent! Bis ich verstand, was sie meinte: Alle Kinder haben danach wieder zu sprechen begonnen. Der Bub kann nun erzählen, was in Butscha war: Es war dunkel und kalt und sie konnten nicht raus und sie hatten wenig zu essen. Was er nicht weiß: Seine Mutter hat alles Essen ihm gegeben, damit er überlebt. Sie war Mitte dreißig und ist verhungert. 21. Februar 2023. Drei Tage vor dem Jahrestag des russischen Totalangriffs auf die Ukraine. Faschingsdienstag. Die ukrainische Gemeinschaft und die Caritas haben zu einer Kundgebung für die Kinder der Ukraine aufgerufen. Systematische Verschleppungen ukrainischer Kinder durch Russland. Wie lange weiß ein kleines Kind Vor- und Nachnamen seiner Eltern? Ich hatte als Lehrerin für Deutsch noch in der 1. Klasse Gymnasium Kinder, die beim Aufsatzüben für eine Personenbeschreibung den Vornamen von „Mama“ und „Papa“ nicht angeben konnten, denn „Mama“ ist Mama und „Papa“ ist Papa! Wie lange merkt sich ein dreijähriges Kind seinen eigenen Namen? Wie lange kann es den Ort sagen, wo es herkommt? Ein kleines Kind kann nicht aufschreiben, was es nicht vergessen darf. Mit welchen Zaubermitteln soll es mental widerstehen, wenn die „neue Familie“ sagt, die eigenen Eltern hätten es verlassen, wollen es nicht mehr wiederhaben, seien schlechte Eltern, das Land, wo es herkomme, sei schlecht, jetzt würde es eine richtige Mama und einen richtigen Papa kriegen? Natascha Kampusch, die in Österreich als Kind entführt wurde, hat es geschafft, dem Täter acht Jahre geistig Widerstand zu leisten, sie hat eisern daran festgehalten, dass ihre Mama sie suchen wird. Das ist ein Wunder mentalen Widerstands. Sie war zehn Jahre, als sie entführt wurde. Selbst erwachsene Gefangene werden psychisch gebrochen, sobald sie daran zu zweifeln beginnen, dass sie gesucht werden. An welchen Gedichten, an welchen Liedern kann sich ein Kindergartenkind festhalten, ein Kleinkind? Am Stephansplatz ist mit Kerzen ein riesiges Herz gebildet. Ukrainische Kinder, von russischen Bomben und Raketen aus ihrer Heimat vertrieben, zünden sie an. Mein Mann, unsere Tochter und ich finden uns ein, einige Hundert Menschen sind bereits da, Puls 24 berichtet. Zwei Schilder haben wir mit: Was auf dem einen stand, habe ich inzwischen vergessen. Auf dem zweiten, das ich hielt, stand: Raiffeisen Supports Russias War! Unser Kind nimmt großen Anteil an dem, was für die Ukraine passiert, hat auf sein Schild „Lasst die Ukraine nicht im Stich“ geschrieben und rundherum Schmetterlinge geklebt, dennoch wird eine Kundgebung, die der Stille Raum gibt, dem Kind alsbald zu still, also geht sein Vater mit ihm eine Runde, damit es sehen kann, was es zu sehen gibt. Kaum sind sie weg, steht wie aus dem Nichts ein Mann vor mir, Gesicht an Gesicht, viel zu nahe, liest überdeutlich: „Raiffeisen Supports Russias War!“ / - „Und das ist auch richtig so!“ Ich komme gar nicht dazu, Argumente vorzubringen, da prasselt es: ,Der Soros, der Jude! ...“ Den Rest kann nicht mehr zitieren, erstens, weil alles in mir weghören wollte, zweitens, weil ich mich darauf konzentrierte, von dem Mann weg- und den anderen näher zu kommen, wo ist die Reporterin, Kamera! Der Tirade Kern: Soros, internationaler Strippenzieher, wie Juden überhaupt, richtig, was Russland macht, richtig, was Raiffeisen mach, usw. usf. Der Mann geht mir nach, Tirade weiter, ich drohe, die Polizei zu rufen, wiederhole „ich rufe die Polizei“, wiederhole es noch einmal, die österreichische Polizei dürfte nicht als Sicherheitsgarant der „russki mir“ gelten, denn plötzlich, von einem Moment auf den anderen, ist der Mann weg. Ware Polizei überhaupt da gewesen, wenn ich sie gebraucht hätte? Ich umrunde die Kundgebung. Polizei da, jedoch unscheinbar: Ein einziger unbeleuchteter Polizeiwagen nah an der Mauer des Stephansdoms, als würde er sich an sie drücken. Vielleicht sind ja PolizistInnen in Zivil aktiv, wer weiß. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich fast keine Fakten nennen könnte, weder hätte ich das Aussehen genau beschreiben (kein Bart, unangenehmes Gesicht), geschweige die Kleidung (Hose) noch die Richtungen angeben können, aus der er gekommen und verschwunden war. Das ist vermutlich eine typische Erfahrung: Wenige Fakten, passiert ist „nichts“, greifbar und beschreibbar allein das erlebte Gefühl der Bedrohung und eine eklig klebrige Erinnerung. Drei Tage später, am 24. Februar 2023, rief die ukrainische Gemeinschaft zu Infoständen SEPTEMBER 2023 93