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Tirol fuhren. Es war der Tag vor Weihnachten und passenderweise brach während des Verladens ein Winterstiefel. Also ging ich in Gföhl auf gut Glück in das Schuhgeschäft neben der Tankstelle, wurde gut beraten, als Nichthiesige erkannt, fand die Verkäuferin nett und sagte zu ihr an der Kassa: „Ich komme gerade vom Jachan.“ „Der ist super! Wir spenden auch!“ Wir lächelten uns an und waren sichtlich froh über den jeweils anderen. Jedesmal, wenn ich die Winterschuhe vom Schuhgeschäft aus Gföhl anziehe, sehe ich dieses strahlende Gesicht der Verkäuferin vor mir. Es war die Zeit, als die Ukraine durch Russland in Kälte und Dunkelheit bombardiert wurde und in Österreich zu spüren war, dass die russische Propaganda zunimmt. Eine Bekannte hatte kurz davor berichtet, was sie von einer Kollegin im Konferenzzimmer gehört hatte. „Das hat eine Kollegin gesagt!“, sagte sie fassungslos, „hoffentlich bekommt das Juri nicht zu hören.“ Juri ist der 12jahrige Bub aus Kyjiw in ihrer Klasse, der die Nachrichten verfolgt und Journalist werden will. Ich nahm mir vor, Jachan zu interviewen. 12.5. Facebook-Seite Georg Jachan „Aus gegebenem Anlass: Irgendwer [...] heute zu mir: ‚Du derfst die ned wundern, wanns di irgendwann mitm Gwiahr (Gewehr!) vu daham ohoin oder glei daschlogn....“°' Ehrlich gesagt wundere ich mich immer wieder, wie freiwillige soziale Arbeit gesehen und entwertet wird. [...] Gewalt wurde mir jaschon mehrfach angedroht, wie auch unser brauner Stadtrat schon vor Jahren zu Nachbarn meinte: „Wenn ich Schwierigkeiten machen würde - er meinte mein Engagement in der Fliichtlingshilfe, dann würde man mit mir „abfahren“!. Wohin denn die Fahrt gehen solle, konnte mir Besagter leider nicht beantworten. [...] Da Besagte allerdings weder direkt noch indirekt genannt werden wollen, zieht man dann doch einen größeren Kreis um mich und lässt mich meine freiwillige Arbeit machen.“ 22.5.23. Jachan hat ein nettes Lokal in einer Kremser Seitenstraße vorgeschlagen, wir treffen uns aufein langes Gespräch, meine Tochter zeichnet derweil Wellensittiche. Wenn sie aufs Klo muss, erzählt Jachan das, was Kinder nicht hören sollen. Angefangen hat alles mit seiner Frau, 2015. Jachan hatte Zeit, und seine Frau sagte: „Du kannst ja arabisch, warum fährst Du nicht zum Dolmetschen an die Grenze?“ Und so kam Jachan zur Flüchtlingshilfe. Für ihn war Putins Angriffskrieg kein „Blitz der Erkenntnis“, wie Gerd Koenen den Zeitsprung nach dem 24.2.22 in der Gesellschaft beschreibt. „Ich hab von den Flüchtlingen gewusst, was Putin in Syrien macht.“ Jachan hat 15 Jahre als Justizwachebeamter gearbeitet. Sein Fazit: „Das waren die härtesten 15 Jahre meines Lebens“, sagt er, „Ich habe es nicht geschafft, mich mit den bestehenden Strukturen zu arrangieren.“ Zum Thema könnte er ein ganzes Buch schreiben. Dann bräuchte er vielleicht rechtlichen Beistand. Vielleicht schreibt er etwas nach dem Krieg. - Wenn der Krieg gut ausgeht. Was ich 2022 als Bruch empfand (Rechte färben die Coronademos russisch; manche fühlen sich durch die Ukraine in der Arbeit gegen Kapitalismus und Patriarchat gestört; manchen ist das eine wie das andere egal; manche ängstigen sich ohne Hierarchisierung ihrer Ängste zuungunsten von ganz Östeuropa°”), all das passierte für ihn 2015. Rund um ihn herum teilte sich seine Welt: in Unterstützer und Gegner der Flüchtlingshilfe und in die, die schweigend warten, wer die Mehrheit bekommt. „Leute sprachen plötzlich nicht mehr mit mir. Die haben mich aufwachsen gesehen! Meine Eltern wurden gemobbt!“ Von seinen Arbeitskollegen blieben ihm nur mehr zwei, alle anderen brachen den Kontakt ab, „für die war ich tot. Wir hatten gemeinsam Geburtstag gefeiert, das waren Leute, auf deren Hochzeit ich war.“ Seiner Mutter widerfuhr das Gleiche von einer — nun ehemaligen - Freundin, deren Ehemann ein FPOler ist. Ich frage: Was haben deine Eltern gesagt, wollten sie, dass du aufhörst? - Nein, sie haben gesagt, mit de Trottln woit ma eh nix redn. Jachan verteilte in der Stadt Mossul humanitäre Hilfe, als die Islamisten noch nicht geschlagen waren. Kürzlich sah ich sein Posting aus dem Jahr 2017. Ein Jahr später, 2018, brachte ihn sein ukrainischer Freund, der 80jährige Schriftsteller Valerij Demydenko, in die Ukraine, wo Jachan mit der Kremser Organisation „Future for Children“ in Tarutyne im Oblast Odessa ein Waisenhaus umbaute. Wenn Jachan so eine Aufgabe übernimmt, dann organisiert er sich alles direkt vor Ort: Dort kauft er das Material, dort sucht er die Arbeitskräfte. Es war ein Schulfreund von Jachan, ein Steuerberater, der „Future for Children“ gegründet hatte. Fährt ein Transport des Vereins für weltweite Northilfe in die Ukraine, kommt die meiste Hilfe für die Kinder von „Future for Children“. Aus dieser Zeit rund um 2018 hat Jachan Clustermunition zu Hause. Ukrainer haben sie ihm als Beweis übergeben, sie stammen aus den russisch besetzten Gebieten. Schon vor der Totalinvasion haben die Russen alles eingesetzt, dazu Hasspropaganda: Ukrainer würden prorussische Frauen schänden und sie ausweiden, Embryos herausschneiden. Das gesamte Arsenal der russischen Propaganda war bereits Jahre vor der Iotalinvasion aktiv. Zwei Jahre später kam Corona und damit Stimmenzuwachs für die FPÖ. Schon zuvor war ein politisch aktiver rechtsgerichteter Zeitgenosse nach einem für die FPÖ günstigen Wahlergebnis im Wirtshaus auf den Tisch gesprungen und hatte „Heil Hitler!“ geschrien. Nun merkte Jachan eine Verschiebung: man wurde „dreister“. Der Bruder seiner Oma war zu Kriegsende von Nazis erschlagen worden. Nicht in Gföhl, sondern in Langenlois, eine halbe Stunde entfernt, er war im Stall und richtete sein Fuhrwerk für die Heimfahrt her. Davor hatte er im Gasthaus seine Meinung gesagt. Corona brachte für Jachan einen Verlust, der ihn heute noch schmerzt und den er bereits im allerersten Gespräch erzählte, während wir die Hilfspackungen von meinem Auto in sein Auto räumten. Er hatte einen Freund, einen linken Philosophen und Ekthiker aus der Friedensbewegung, der für ihn wie ein Mentor war. „Wenn ich eine Meinung hören wollte, ging ich zu ihm.“ Und nun begann der Mentor, Ken Jebsen zu empfehlen. „Das ist der, der den Holocaust relativiert“, erinnert mich Jachan und sagt, dass ihn diese „Toleranz gegenüber Jebsen“ erschütterte. Er versuchte es mit Aufklärung auf persönlicher Ebene von erster Hand. „Red mit meiner Frau, die kennt das Gesundheitswesen!“ Darauf sagte der Freund, er wolle nicht mit seiner Frau reden, die sei „nur eine kleine Krankenschwester.“ Seine Frau hat drei Abschlüsse und leitet zwei Pflegeheime. Jachan sieht den Nährboden der Verschwörungserzählungen vor allem im „Egoismus, man will auf nichts verzichten.“ In der Umgebung wurden Schleckerparties veranstaltet — ein Lolli machte die Runde, unter Erwachsenen wie Kindern, Motto: „Ich fürchte mich nicht.“ Ich kann sein Gefühl gut verstehen, weil es mir nach dem 24.2.2022 ähnlich ging. Also gab ich ihm die zwei Ausgaben Zwischenwelt von 2022. Beim nächsten Gespräch sagte er: „Die ist super,das sagt auch meine Frau!“ 24.2.2022. Jachan erzählt das, was auch UkrainerInnen in Österreich erzählen: „Die ersten drei Monate war ich Tag und Nacht nur am Telefonieren und Kaffeetrinken.“ Er sah sich nahe an Herzinfarkt und Burnout. Die UNHCR wusste von Jachan und empfahl SEPTEMBER 2023 95