OCR
Vor 60 Jahren steht Georg Stefan Troller, 24 Jahre alt, Korporal der US-Armee, auf einem bayerischen Berg und schaut in das Land Salzburg hinab, auf die Landschaft seiner Jugend. Als Reporter der Münchner „Neuen Zeitung“, herausgegeben von den Amerikanern, soll er über die Schmuggler der „grünen Grenze“ berichten. Und als er so ins ,,Salzburgische“ schaut, da packt ihn eine Sehnsucht. Felix Mitterer. Foto: Nina Jakl/Archiv der Theodor Kramer Gesellschaft mir fehlte, war das Gefühl der Heimkehr. Der Wiederkehr. Des Neuanfangs, nein, der Neugeburt. Aus dem neuen Deutschland musste prinzipiell ein neuer Troller entstehen. Zuviel an Sehnsüchtigem hatte sich aufgestaut in der Emigration, als dass dieses bequeme und umworbene Besatzerdasein mich noch zufrieden stellen konnte. Nicht beneidet wollte ich werden, sondern benötigt und (sofern das Wort noch unter den Lebenden weilte): geliebt. Ich wartete aufeinen Ruf. Von Deutschland kam dieser Rufnicht. Nichts von Deutschland drang, zu meiner immensen Perplexität, an mein Herz. Und in jenem Moment, wo ich aufs ,, Salzburgische “ niederblickte, wusste ich mit fast verzweifelter Hoffnung, es musste dies sein oder nichts. Ich hatte hundertmal verkiindet, dass ich mit Osterreich fertig war. Wie mit einer Frau, die einen schändlich betrog. Wenn auch ihr Verführer sich später als Niete erwies. Vielleicht hieß sie mich Jetzt von neuem willkommen in ihrem Schoß? Allerdings hatte ich mir ja inzwischen eine weitere angelacht, die Legitime sozusagen. Die mir seit drei Jahren Sold zahlte, mich nährte und kleidete und mir ihren Trauschein — die Biirgerpapiere — verlieh. Aber die Wahrheit war, dass ich nicht zurückwollte, zur Legitimen. (Eine unmögliche Wahrheit, die ich fast schon vor mir selbst verheimlichte.) Dass jedoch kein vernünftiger Rufmich von ihr fernhielt... es sei denn: der unwiderstehliche Ruf, auf den ich wartete. Und der Heimatschoß, in den ich versinken konnte, so tief, dass nichts mehr von mir sichtbar blieb. Und so geht Troller nach Wien, wird bei der so genannten amerikanischen ,,Theaterkontrolle“ als Mitarbeiter engagiert. Sucht die alten Plätze der Kindheit auf. Wie alle Wiener, habe ich Wien jederzeit ebenso glühend geliebt wie gehasst, was zweifellos fruchtbar ist. Gleichgültig ließ mich die Stadt nie, aus der ich mit siebzehn hinausmusste. Ich fühlte mich ja nicht bloß als Kind aus Wien: Ich war ein Kind von Wien, ich war Wienerkind. Wie man eben Wienerwald sagt oder Wienerschnitzel. Diese Herkunft, mitsamt ihrer spezifischen Version des Deutschtums, habe ich lebenslang als so verpflichtend gefunden wie die Abstammung von meinen jüdischen Vorfahren. In München haben Troller die zerbombten Häuser gleichgültig gelassen, hier in Wien beklagt er die kleinste Lücke im StraBenbild. Eine Nacht und einen Tag wandert er im Schneetreiben durch die Straßen. Vergisst seine Amiuniform, wird wieder Kind, Wienerkind. Dann steht er im „Fetzenviertel“ vor dem Geschäftshaus seines Vaters. Fine Ruine, ausgebombit. Er sucht die Wohnungen der Kindheit auf. Bei einer Hausbesorgerin steht das „„Boudoir‘“ der Mutter, aus Kirschholz. Vaters Bibliothek findet sich beim ehemaligen Ladendiener. Bei Wachmann Fuchs, der nach der so genannten ,,Kristallnacht“ den Flügel sorgfältig vermaß, steht ebendieser, er hatte richtig ausgemessen. In der letzten Wohnung sitzt ein kleiner Junge auf dem Nachttopf, vor sich ein Spielzeug, ein Blechmännchen. Troller zieht das Blechmännchen auf, es schlägt die Trommel. Das Kind freut sich, denn es hat nicht mehr funktioniert. „Ach ja,“, sagt Troller, „das hat schon damals nicht richtig funktioniert, und hat mich fünf Schilling Taschengeld gekostet.“ Wie peinlich ist all das, wie entsetzlich peinlich. Sie fürchten sich vor der Amiuniform. Aber nicht vor Troller. Kein Unrechtsbewusstsein. Eine Ausnahme in der letzten Wohnung, ein Mann im Rollstuhl. In seinen Augen liest Troller, dass er versteht, dass ihn das alles bedrückt. Bei der Theaterkontrolle gibt’s nichts zu kontrollieren. Ein Thornton Wilder-Stiick wird vorbereitet. Der Regisseur ein chemaliger Nazi, die meisten Darsteller ebenso. Claudia, Trollers Freundin, als einzige unbelastet. Troller protestiert. Aber sein Chef, Leutnant Karpeles, zuckt die Schultern. „Mit wem soll ich Theater machen? Mit Ihrer Claudia als Solonummer?“ Und mit Claudia geht’s auch nicht. Sie will, dass er vergisst, einfach alles vergisst. „Schluss mit der Vergangenheit!“ Dieser Satz entstand bereits im Mai 1945. Im Frühjahr 46 reist Troller zurück nach Amerika, verlässt die Armee. Der Vater, immer noch in New York, will, dass er endlich einen Beruf ergreift: „Zwei Wege stehen dir offen, mein Sohn, Pelz oder Konfektion“.