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eröffneten ihnen das Unvorhergesehene, dass nämlich die bisher gültigen Transitvisa für Spanien durch eine entsprechende Verfügung der Regierung über Nacht Makulatur geworden und daher alle Flüchtlinge aus Frankreich zurückzuschicken seien. Die Tragik der Geschichte ist bekannt und vielfach beschrieben: Benjamin ließ alle Hoffnung fahren und setzte seiner physischen Existenz vom 26. zum 27. September durch eine Überdosis Morphiumtabletten ein Ende. Tatsache ist auch, dass dieser Verzweiflungsakt mit sich brachte, dass Henny Gurland und deren Sohn von den Grenzbeamten zunächst in Spanien belassen wurden und alsbald die Grenze nach Portugal passieren konnten. Lisa Fittko, die, nachdem die kleine Gruppe den Bergsattel erreicht hatte, hinter dem Spanien begann, unmittelbar wieder nach Banyuls zurückgekehrt war, erfuhr erst später von der Tragödie des Freitods in Port Bou. In Banyuls fand Fittko ein Telegramm mit der Aufforderung vor, umgehend nach Marseille zurückzukehren, um ihr portugiesisches Visum verlängern zu lassen, sozusagen ihr einziges legales Dokument. Angekommen in Marseille, erfuhr sie von ihrem Mann, dass noch für denselben Abend ein Treffen mit dem Journalisten Varian M. Fry verabredet war, dem amerikanischen Repräsentanten des auf Vorschlag von Erika Mann gegründeten „Emergency Rescue Committee“. Er hatte in Marseille ein Fluchthilfebüro, das „Centre Americain de Secours“ („American Relief Center“) eröffnet, von dem aus die Fluchthilfe in Südfrankreich für deutsche und österreichische Verfolgte des Naziregimes organisiert wurde. In seinen Erinnerungen (,,Surrender on Demand“, N.Y. 1945) beschrieb Fry, wie er mit einer etwa 200 Personen umfassenden Liste und ausgestattet mit Geld nach Marseille kam. Auf der Liste standen die Namen von Künstlern, Intellektuellen und Widerstandskämpfern, die vor den Nazis flüchten mussten und denen er amerikanische Einreisepapiere besorgen konnte; es meldeten sich aber tausende Hilfesuchende. Da sich das Vorhaben schwieriger als erwartet gestaltete, bat Fry die Fittkos um Unterstützung der Ziele des Hilfskomitees. Obwohl eigentlich nicht begeistert von dem Vorhaben, stellte das Paar seine eigenen Ambitionen zur Flucht altruistisch zuerst für einige Wochen zurück. Doch sollten es schließlich über sieben Monate in der Zeit von Oktober 1940 bis April 1941 werden, in denen Lisa und Hans Fittko gefährdete Menschen zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien brachten. Den beschwerlichen Weg, von Fry als „F-Route“, „F“ für Fittko, bezeichnete, gingen sie oft mehrmals die Woche. Nachdem im Frühjahr 1941 keine Rettungsaktionen mehr möglich waren, weil das Grenzgebiet auf Anweisung aus Deutschland für Ausländer gesperrt wurde, nahmen sie das Angebot Frys für eine Überfahrt nach Kuba an. Fry selbst wurde am 29. August 1941 festgenommen und kurz darauf aus Frankreich ausgewiesen. Für Lisa Fittko gab es aber noch das Herzensanliegen, Frankreich erst dann zu verlassen, wenn sie ihre Eltern aus dem besetzten Paris nach Cassis-sur-Mer geholt hatte. Es gelang ihr, und die Eltern verbrachten die Jahre bis 1948 in dem kleinen Badeort östlich von Marseille, am Cap Canaille. Perfekt ausgestattet mit einem Ausreisevisum von Frankreich, Durchreisevisen von Spanien und Portugal sowie einem Einreisevisum von Kuba, erreichten die Fittkos zehn Tage vor dem am 7. Dezember 1941 losbrechenden japanischen Angriff auf Pearl Harbor mit dem Schiff Havanna. Auch die Zeit in Kuba sollte lediglich als Zwischenstation für eine baldige Rückkehr nach Deutschland dienen, zunächst aber musste der Krieg beendet sein. Und dann gab es da noch ein unüberwindliches Problem, denn der Weg zurück hätte nur über die USA führen können, doch paradoxerweise gewährten die Staaten den politischen Flüchtlingen zwar die Einreise und damit verbunden Asyl, gestatteten ihnen aber keine Durchreise nach Europa. Hinzu kam, dass Hans Fittko bereits von Krankheit gezeichnet war, so dass die Existenzsicherung an seiner Frau hing. Sie verdiente in pekuniärer Misere den Lebensunterhalt in einer Ausbildungsstätte für deutsche jüdische Flüchtlinge in Havanna. 1948 gelangte das Paar zu seiner letzten Station in die Vereinigten Staaten. Nicht wie eigentlich geplant in New York, sondern in Chicago ließen sie sich nieder, wo bereits die betagten Eltern Lisa Fittkos lebten. In Chicago blieben sie „hängen“, der lange gehegte Rückkehrwunsch nach Deutschland wurde immer mehr eingeschränkt: Zunächst hatte Hans Fittko Sorge, dass ihm als Journalist— egal auf welcher Seite im geteilten Deutschland — nicht die politische Freiheit zugebilligt werden könnte, das zu schreiben, was er dachte und wollte. Überdies hinderte ihn seine schwere Krankheit, seine Möglichkeiten nochmals zu entfalten. Erneut wurde Lisa Fittko zur Versorgerin der Familie: Ehemann, Vater und Mutter. Zunächst als Sekretärin und Übersetzerin, war sie später als Büroleiterin in der Administration der University of Chicago tätig. Europa, Deutschland und vor allem Berlin sollte sie erst wieder 1960 sehen, als die Eltern (Vater 1952, Mutter 1959) und Hans Fittko (September 1960) gestorben waren. Für politische Aktivitäten blieb ihr bis zur Pensionierung 1974 wenig Zeit, nichtsdestotrotz — ganz alte Kämpferin — begann sie sich zur Zeit des Vietnamkrieges in der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung aktiv zu engagieren. Dass Lisa Fittko ihre Erinnerungen schrieb, ist vermutlich Walter Benjamins altem Vertrauten Gershom Scholem zu verdanken: Chimon Abramsky, von der University of London, berichtete ihm von einem Gespräch mit Fittko, 1979/80 in den USA, und dass diese Walter Benjamin über die Pyrenäen geführt habe. Dabei wurde auch Benjamins bis heute verschollene schwere Tasche erwähnt, deren Inhalt ihm wichtiger als sein Leben gewesen sei. Diesbezüglich aufhorchend, setzte sich Scholem mit Fittko in Verbindung, um die Einzelheiten zu besprechen. Scholem fragte, ob er die Geschichte publizieren dürfe, was Fittko aber ablehnte und selbst mit der Niederschrift begann. Das Resultat waren die beiden zu Beginn des Nachrufs erwähnten Erinnerungsbücher, deren Resonanz nicht nur in Deutschland und Österreich außerordentlich groß war. Hinzu kamen eine Reihe noch nicht veröffentlichter Erzählungen und ein drittes Buch, an dem sie bis zuletzt, trotz großer Einschränkungen aufgrund gesundheitlicher Probleme, arbeitete. Die Historikerin Catherine Stodolsky, eine Nichte Fittkos, sprach noch fünf Tage vor dem Tod ihrer Tante im Münchener „Club Voltaire“ über „Mein Weg über die Pyrenäen“ und erwähnte dabei, dass sie gerade ein Buch über ihre Tante schreibe. Man darf schon heute gespannt sein. Lisa Fittko, die im Alter mit vielen Auszeichnungen und Ehrungen bedacht wurde, war bis zuletzt für andere da und das trotz der Tatsache, dass sie durch 1933 eine Traumatisierte war. Nachrufe sind oft schwierig, wer aber über Lisa Fittko schreibt, kann der solonischen Forderung „De mortuis nil nisi bene!“ ohne Skrupel gerecht werden. Über den Tod hinaus kann gar nicht anders als gut und ehrenvoll über Lisa Fittko berichtet werden.