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Dieser Freitag, also. Dieser 11. März Anno Diaboli 1938. Die Bilderflut, die er in mir auslöst, immer wieder, und diesmal erst recht. Ich muß, wenn sie mich überschwemmt, auf der Hut sein, Erfahrung und Gedanken des nun 65jährigen Kommunisten nicht jenem knapp 15jährigen Bürgersöhnchen aus jüdischer Familie zu unterschieben, das ich damals war. Ich will ja, anders als manche meiner höchstgestellten Landsleute, ehrlich mein Damals erhellen — nicht erst das, was ich mir seither daraus zu kneten wußte. Kanzler Schuschnigg hatte also, endlich, zum Handeln gegen die Nazi aufgerufen: zur Volksabstimmung. Sie mußte gewonnen werden, unbedingt, das begriffich. Mochte meine Welt auch kindhaft klein und umhegt gewesen sein - eine Niederlage mußte sie jedenfalls zum Einsturz bringen. Vollends, bis ins intimste Eckchen. Man wußte ja— jawohl, man wußte! —, was sich „draußen im Reich“ begab und womit übrigens auch die heimischen Nazi recht unverhohlen drohten. Das Wort Dachau, etwa, war auch in Wien längst ein Begriff und hatte nachdrücklichst einen anderen verdrängt: Wöllersdorf. Tage der Abzeichen Ich war aufgeregt am Morgen jenes 11. März. Alle waren aufgeregt. Und ich war zuversichtlich. Wie denn auch nicht — mit fünfzehn. Auf dem Weg in die Schule, teils mit der Straßenbahn (nur nannte man sie damals kaum Straßenbahn, sondern meist „die Elektrische“), suchte ich nach ständiger Bestätigung: Ich zählte, zählte, zählte die Abzeichen, die an den Mantelaufschlägen der Menschen blitzten — zählte die „vaterländischen“, die Kruckenkreuze; und zählte die „anderen“, die Hakenkreuze, die zwar entsetzlich zahlreich waren, aber doch, welche Genugtuung, in der Minderzahl. Dennoch: Wo kamen sie plötzlich her, diese Hakenkreuznadeln? Und wieso und durch wen wußten von einem Tag auf den nächsten so viele Leute, wo überall diese Abzeichen zu beziehen waren — und daß es geraten schien, sie anzustecken? Es waren die Tage der Abzeichen. Fast jeder trug plötzlich eines, so schien es. Wer aus Gesinnung, wer bloß (und welches) aus unterschiedlichsten „Sicherheitsgründen“: das allerdings wußte meine Zählerei nicht zu ergründen. Mit einer sehr bemerkenswerten Ausnahme: Das war, ich sah es nahe am Wallensteinplatz und traute zunächst meinen Augen nicht: vom Mantelkragen einer älteren Frau die drei Pfeile blinken, das seit dem 1. Mai 1933 nicht mehr gesehene, seit dem Februar 1934 verbotene Emblem der Sozialdemokraten. Die Erklärung folgte dichtauf, schon an der nächsten Straßenecke, wo ich auf meinen Klassenkollegen Bernhard stieß. „Die Sozi haben beschlossen, für Schuschnigg abzustimmen“, sprudelte es aus ihm heraus, „Wir verhandeln bereits mit ihm — wir werden wieder erlaubt! Sie brauchen uns ja!“ Bernhard mußte es wissen. Seit Jahren wurde in der Schule gemunkelt, seine gesamte Familie leide „an chronischem Rotlauf“, so drückte man das damals aus, und müsse verdammt aufpassen, nicht eines Tages „ins Fachspital“ eingeliefert zu werden. Bislang hatte ich Bernhard nicht recht leiden können - ich, der nach dem Februar ‘34 als eifriger Jungpfadfinder zur lagerfeuerromantischen „Siegesfeier“ in den Sieveringer Steinbruch gepilgert war, ihn, Bernhard, den nicht einmal Kanonen klüger, nur schlauer gemacht hatten. Jetzt aber hätte ich ihn am liebsten umarmt. War doch zu befürchten gewesen, „die Sozi“ könnten, als „Rache“ für den Februar, der Abstimmung fernbleiben und sie damit zur Katastophe werden lassen. Bernhard kramte sein Geldbörsel hervor, entnahm ihm ein winziges Seidenpapierpäckchen und schälte daraus etwas, was er mir nun auf der flachen Hand zeigte: das Drei-Pfeil-Abzeichen. „Nach der Schule steck ich mir’s an“, erklärte er. „Seid einig!“ Nach der Schule. Denn zunächst trug er ein anderes. Das Schülerabzeichen der Vaterländischen Front. Auch ich trug es. Wie jeder Schüler. Das war Vorschrift, und ihre Einhaltung wurde streng überwacht am Bundesrealgymnasium Wien XX, Unterbergergasse. Das Abzeichen war, an diesem Tag mehr denn je, ein Widerspruch in sich - und Österreichs Widerspruch insgesamt: Ein Wimpel, füglich in Rot-Weiß-Rot, geschmückt mit Grün; doch nicht mit dem in der Bundeshymne besungenen Tannengrün, sondern mit einem Blatt von deutscher Eiche; und „Seid einig!“ stand daneben, in deutscher Fraktur. An diesem Morgen stand Herr Direktor Dr. Alois Hinner höchstselbst am Schultor, um das Tragen des Abzeichens zu kontrollieren. Sein strenges Auge mußte man passieren, ehe man an der das Foyer beherrschenden bronzenen Franz-Joseph-Büste vorbei in ein Klassenzimmer der Republik durfte. Der Kaiser stand erst seit dem Februar ‘34 wieder da. Und auch den Direktor Hinner gab es hier erst seit damals. Da war der bisherige Direktor, der Sozialdemokrat Dr. Beran, zusamt seinem Stellvertreter und Genossen Dr. Hirschl „der Schule verwiesen‘ worden — wie danach ein paar „renitente‘‘ Schüler, die aus einem der Gangfenster linke Flugblätter in den Schulhof gestreut hatten; nie aber auch nur einer jener Nazi, die nämliches mit Hakenkreuzen unternahmen. „seid einig!“ Wer mit wem? An diesem 11. März jedenfalls: erstmals Bernhard und ich. „Christlich, deutsch, gerecht und...“ Der Unterricht dauerte diesmal nur kurz. Für 11 Uhr war ein Appell anberaumt. Ich weiß nicht mehr, ob diese Versammlungen im Festsaal wirklich auch offiziell so hießen oder ob nur wir Schüler, durch zahlreiche beträchtlich weiterreichende Übungen der „vormilitärischen Jugenderziehung“ angeregt, sie so nannten; zutreffend war die Bezeichnung jedenfalls. Wir standen also stramm aufgereiht im Saal. Vorn die „Gschroppen‘ der Unterstufe, dahinter wir, Burschen (links) und Mädchen (rechts) der höheren Klassen. Vor uns aufgebaut, auf 11