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dem Podium, die Professorenschaft (ich studierte ihre Gesichter, versuchte mir vorzustellen, wer der Herren nun welches Abzeichen trüge, dürften sie hier eines tragen!) und als deren Zentrum neben, nein, vor dem Direktor der eigentliche Regent der Schule: Hochwürden Anton Maria Pichler, Katechet, oberster und gefürchteter Gebieter über die katholische Schülerkongregation, der nicht angehören zu müssen wohl das einzige Privileg war, das die jüdischen Mitschüler genossen. Da stand er nun, schlank im schwarzen Priestergewand, und hielt Heerschau. Hinter ihm wuchtete, gefürchtet wie sein Meister, der massige Wozelka aus der 7B, mit der geweihten Schul- und Kongregations-Fahne, die uns als die Fahne ganz Österreichs zu gelten hatte. Hochwürden hielt eine Ansprache, die uns — „über alle Klüfte hinweg“ — zur vaterländischen Pflichterfüllung im Dienste der Heimat und der Jungfrau Maria aufrief. Dann sangen wir. Zuerst die Bundeshymne, mit „deutsche Arbeit, ernst und ehrlich, deutsche Liebe, zart und weich“, dann das vorschriftsgemäß stets anzuschließende „Dollfußlied“ mit den Eröffnungszeilen „Ihr Jungen, schließt die Reihen gut,/ ein Toter führt uns an./ Er gab für Österreich sein Blut,/ ein wahrer deutscher Mann.“ Wir sangen „über alle Klüfte hinweg“. Auch die Textstelle „Christlich, deutsch, gerecht und frei/ von Klassenhaß und Tyrannei“. An das „Christlich“ waren ja auch die Nicht-Christen längst gewöhnt, in Deutsch waren wir ohnedies zumeist die Besten (wohl weil daheim in jüdischen Bürgerkreisen mehr „nach der Schrift“ gesprochen wurde — und weil man sich doch, bitte sehr, als echter Wiener Jude nicht irgenwelchen zugewanderten „Polnischen“ gleichsetzen ließ). Gegen ernste und ehrliche Arbeit, sofern man solche zu bekommen das Glück hatte, gab es nichts einzuwenden, schon gar nichts gegen zarte und weiche Liebe, von der wir zu träumen begonnen hatten. Lediglich das Wort „Klassenhaß“ beliebten wir insgeheim durch „Rassenhaß“ zu ersetzen - und vermeinten damit den Kern der Sache getroffen zu haben und Österreich als ausreichend anders deutsch zu verstehen als das Österreich bedrohende Deutsche Reich. Hochgefühl und Absturz Der Heimweg war ein einziges Erfolgserlebnis: Weniger Hakenkreuze als noch am Morgen, hingegen gar nicht so selten das wiedergeborene Drei-Pfeil-Abzeichen. Und vom Wallensteinplatz her stob eine Gruppe junger Nazi — allesamt in kurzen Hosen und weißen Stutzen - schleunigst auseinander, in höchst ratsam gewordener Flucht vor einer ansehnlichen Menschenschar, die nur „Ö-Ö-Österreich!“ skandierte. „Ö-Ö-Österreich!“ Und: „Nieder mit den Hackingern!“ (dies, vom Hakenkreuz hergeleitet, Wiens abschätzige Bezeichnung der braunen Faschisten) - ich schrie mit, aus Leibeskräften, und die Menge wuchs. Die Rufe hallten weiter, als ich bereits im Fünferwagen der „Elektrischen“ saß, der mich heim in die Alserstraße brachte. Zu Hause kam es über meine hervorsprudelnden Berichte von der Entscheidung der Sozialdemokraten zu einem ebenso knappen wie bezeichnenden Dialog zwischen Onkel und Tante, bei denen ich wohnte: „Das wartet er doch nicht erst ab“, sagte der Onkel, und es klang wie ein tiefer Seufzer. „Der Schuschnigg? Wieso?“ „Aber geh! Der Hitler! Eine Niederlage kann der sich nicht leisten. Da marschiert er lieber gleich ein.“ Und dann nach ei12 ner Pause, etwas zuversichtlicher: „Aber vielleicht läßt ihn der Mussolini doch nicht. Und die Westmächte... Wenn nur der Schuschnigg jetzt nicht gleich kapituliert...“ Doch der Schuschnigg kapitulierte. Nur wenige Stunden später. Und zwar gründlich. Wir kauerten um das Radiogerät, aus dem die Stimme des Kanzlers tönte, jedes Wort ein Stich tief ins innerste der Eingeweide. „,... weichen der Gewalt... den einrückenden deutschen Truppen keinen Widerstand... verabschiede ich mich mit einem wahrhaft deutschen Wort: Gott schütze Österreich!“ Gott? Und wer noch? Die Hymne erklang. Wortlos diesmal; und ganz ungewohnt schlicht und unmilitärisch, in Haydns originaler StreichquartettFassung. Und wir? Wir, dieses Häufchen Familie, das von der Zukunft noch nichts anderes wußte, als daß es sie wahrscheinlich gar nicht geben werde? Wir saßen wie gelähmt. Schwiegen. Warteten. Und wußten nicht, worauf. Kein Wunder begab sich. Tatsachen blieben Tatsachen. Schuschnigg hatte nicht sich verabschiedet, sondern Österreich. Und mit Österreich meine gesamte Kindheits- und Jugendwelt. Die würde nun tatsächlich deutsch werden — doch ich kein Deutscher. Ich weiß nicht mehr, ob ich schlief in jener Nacht. Ich weiß aber genau, daß schon ganz früh am Samstag ein noch nie gehörtes Dröhnen die Wände erzittern ließ. Es kam von überallher. Droben brauste Geschwader um Geschwader deutscher Bombenflugzeuge durch den zum Hohn strahlenden Himmel. Drunten, durch die Alserstraße, rasselten, in endlosen Dreifachkolonnen, deutsche Tanks (die Bezeichnung Panzer kannten wir damals noch nicht) stadteinwärts. Eine seltsam reichliche Bedeckung für die von Hitler beanspruchte überwältigende Mehrheit... Ich wollte aus dem Haus. Vielleicht aus Neugier. Vielleicht nur auf der Flucht vor den verzweifelten Gesichtern daheim. Vielleicht auch nur als einziges Fünkchen Aktivität gegenüber dem lähmenden, ziellosen Warten. Im Tor stand unser Hausbesorger, Herr Schwach. Er trug SAUniform samt Hakenkreuz-Armbinde. „Bleib drin, Bub!“ sagte er. Es klang fast freundlich. An ihm vorbei wagte ich mich nicht. Von unserem Haus wehte eine riesige Hakenkreuzfahne. Von jeglichem Haus, so weit ich auch sehen konnte, wehte eine. Woher sie kamen? Wer sie gehißt hatte, so über Nacht? Und über das Wollen wie vieler hinweg? Der Aufstieg hinauf in die Wohnung schien mir endlos. Den Tag verbrachte ich dann am Fenster. Blickte hinunter auf die sich längst stauenden Tankkolonnen. Auf die Allee aus knalligen Fahnen. Auf eine ganz fremde, eine mir völlig entzogene, eine gegen mich vergitterte Welt. Wie aus einem Kerkerfenster. Ausklang — oder...? Tage später — ein ganzes Zeitalter später. Dazwischen lagen qualvolle Stunden am Radioapparat, der Hitlers Einzug in Linz, dann auch in Wien bis in mein nun gar nicht mehr trautes Kämmerlein schmetterte. Auch diesmal: Kein „Wunder in letzter Minute“, irgendwo tief innen noch immer erhofft; nur unverrückbare Tatsachen. Schuschniggs so christliche „Ostmärkische Sturmscharen“ gab es, wie so vieles andere, nicht mehr. Es gab allerdings Sturmscharen. Und es gab — die Ostmark. Und nun auch den ersten Schultag in dieser. In unserem BRG Brigittenau gab es wohl noch den bronzenen Kaiser, nicht aber