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zügen der deutschen Armee aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion und von dem heldenhaften Verhalten der deutschen Truppen in Stalingrad, die sich allerdings nur durch Verrat übereilt den Russen im Januar und Februar 1943 ergeben hatten. Die glorreichen Leistungen des Generalfeldmarschalls Erwin Rommel in Afrika wurden immer wieder hervorgehoben, obwohl seine beste Zeit eigentlich schon vorüber war. Dass er am 9. März 1943 aus Afrika abberufen wurde, hat Plett erst zwei Monate später erfahren. Die versenkten alliierten Schiffe hat Plett immer sorgfältig aufgezählt, von den Verlusten an deutschen U-Booten wusste er dagegen nichts. Und dass nun doch Bomben auf deutsche Städte fielen war nur ein vorübergehender Vorfall. Die Tatsache, dass die bolschewistischen Truppen von den von Juden dominierten Vereinigten Staaten Amerikas mit modernem Kriegsmaterial unterstützt wurden, bestätigte Pletts Meinung, dass es im Tausendjährigen Reich weder Juden noch Bolschewiken geben dürfte. Man würde sie alle wie Ungeziefer vollständig ausrotten! Und all dies sollte nun 1943, da es mit konventionellen Mitteln wohl nicht wie gewünscht ging, mit Hilfe von streng geheimen „Wunderwaffen“ gelingen. Hier hörte ich zum ersten Mal von ,,Todesstrahlen“, mit denen man Flugzeuge abschießen und ganze Kompanien auf einen Schlag vernichten könnte. Ich kann mich dunkel erinnern, dass damals in Pletts lauten Ansprachen oder in den dann folgenden Diskussionen auch unbemannte Flugzeugbomben und weit reichende Raketen genannt wurden. Plett sprach jedenfalls über die nun nahe liegende Möglichkeit, New York zu bombardieren. Ganz anders waren die Nachrichten, die ich zu Hause kommentarlos von meinem Vater auf den Tisch gelegt bekam. Er brachte aus dem Büro meist das „Argentinische Tageblatt“, eine 1878 von dem Schweizer Einwanderer Johann Alemann und seinem Sohn Moritz in Buenos Aires gegründete, liberal und demokratisch orientierte Zeitung, die sich ganz auf die Seite der Antinazis geschlagen hatte. Aber auch hier gab es Berichte über deutsche Geheimwaffen, die eine Wende im schon für Deutschland als verloren betrachteten Krieg herbeiführen sollten. Und man nahm sie sogar recht ernst. Am endgültigen Sieg der Alliierten hatte man allerdings nach dem Eintritt der Amerikaner in den Krieg, im Dezember 1941, kaum mehr Zweifel. Und 1943 konnten nur mehr blinde Fanatiker wie unser Germän Armando Plett an den Sieg der Deutschen glauben. Auf einer groBen, auf einem Brett aufgespannten Europakarte, die übrigens bei Kriegsanfang von der „Deutschen La Plata Zeitung“, in Erwartung der schon vorher angekündigten Eroberung der Ukraine (also der „Kornkammer Europas‘) angefertigt und verteilt wurde, habe ich in Buenos Aires, so wie das viele andere auch machten, mit farbigen Fähnchen die Lage der Fronten sichtbar gemacht. Selbst einem Vierzehnjährigen (ich wurde im Juni 1943 so alt) wurde die Kriegssituation damals klar. Meine Eltern haben sich immer nur sehr vorsichtig über Krieg und Politik geäußert. Jahrelang hatten sie einen Sieg Hitlers befürchtet. Und in Argentinien war die Stimmung eher für Deutschland. Die Deutschen hatten dort aus vielen Gründen einen recht guten Ruf. Mein Vater konnte Ende 1933, nach mehreren Verhören durch die SA und SS, nachdem all seine umfangreichen Akten und Dokumente beschlagnahmt und vernichtet wurden und seine Aufträge storniert waren (er war bis dahin in Dresden ein erfolgreicher Architekt), gerade noch vor der Verhaftung in seine Heimatstadt Wien fliehen. Ein deutscher Sieg musste für ihn ein Alptraum sein, worü14 ber er aber nie sprach. Dagegen behauptete er felsenfest, 1933 aus Deutschland und 1936 aus Wien nur wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten „ausgewandert“ zu sein. Seine frühere politische Tätigkeit als engagierter Sozialdemokrat und die jüdische Herkunft seines Schwiegervaters hat er verdrängt. Das ging so weit, dass meine Schwester Jutta und ich eine Zeit lang nicht genau wussten, ob wir (also unsere Familie) für den Sieg Deutschlands oder der Alliierten waren. Es war ein Schock für meine Schwester, als sie eines Tages doch erfuhr, dass sie einen jüdischen Großvater hat. Auch in Wien war die Lage der Familie meines Vaters nicht einfach. Seine Mutter war schon immer für einen Anschluss Österreichs an das bewunderte Deutsche Reich. Als dies 1938 endlich Realität wurde, jubelten die meisten Österreicher. Meines Vaters Schwester Emmy (also meine Tante) schrieb uns seitenlange Briefe (die noch erhalten sind) voller Verehrung für den Führer und seine Leistungen, voller Hass gegen Juden und Gewerkschaften, und auch voller Vorwürfe an meinen Vater, weil er das „Reich“, das ihn als Architekten dringend gebraucht hätte, verlassen und somit im Stich gelassen hatte. Zum Abschluss ein großes „Heil Hitler!“. Sie war stolz aufihren Mann, der später als Mechaniker bei der Luftwaffe war, und sie hatte durch ihre politische Einstellung beste Beziehungen zu einer Kaserne im Wienerwald, von der sie meist mit Zigaretten und Schokolade zurückkehrte. Es kam noch dazu, dass sie in einem Doppelhaus wohnte, in dessen zweiter Hälfte ihr Bruder (mein Onkel Willi) lebte. Seine Frau hatte jüdische Vorfahren. Der Konflikt war also vorprogrammiert und die Nachbarn erzählten noch Jahre später von den lauten Auseinandersetzungen. Im Jahr 1943 war aber alles schon etwas anders. Abgesehen vielleicht von meiner Tante Emmy und einigen ihrer Freunde hatten die meisten Österreicher ihre Begeisterung für den Führer weitgehend abgelegt. Man wünschte sich nun sehnlichst das Ende des Krieges. Aber Argentinien war weit entfernt und German Armando Plett briillte noch immer und drohte Guillermo Isaac Mintz mit der Vernichtung. Ansonsten hat wohl kaum jemand mehr an den Endsieg Deutschlands geglaubt. Während ich also im Frühjahr 1943 in Buenos Aires das Gymnasium besuchte, nachmittags mit Paul im „Club Atletico San Isidro“ Tennis spielte und abends Fähnchen auf der Landkarte Europas steckte, saß mein Großvater Karl Stark (der Vater meiner Mutter) in einer Holzhütte in Eßling (am Rande Wiens) an einem kleinen Tisch und schrieb mit blauer Tinte in einem notdürftig mit dünnen Fäden an einer Seite zusammengenähten Heftchen. Er schrieb aus einem weiteren Heftchen ab, dass er vorher aus einem noch älteren abgeschrieben hatte. So machten es wohl die Schreiber in der Synagoge mit den Seiten der Bibel. So haben es vielleicht sein Vater und sein Großvater auch getan. Aber sein Vater Emanuel war ja Schächter und hat wahrscheinlich wenig geschrieben. Karl war mit seinem Vater aus dem damals ungarischen Trentschin nach Wien übersiedelt. Der Vater ist gestorben als Karl nur 14 Jahre alt war. Da übernahm er die Rolle des Familienoberhaupts und wurde deshalb auf Ungarisch „Patschi‘“ oder „stark-Patschi“ genannt. Aber er war kein guter „Patschi“. Er verließ das Haus bevor seine beiden Schwestern geheiratet hatten, war mit einer Katholikin befreundet und nannte sich Freidenker und Atheist. Das widersprach alles den streng jüdischen Regeln der Familie und er wurde verstoßen. Seine Schwestern musste er später heimlich besuchen. Ich durfte mit meiner Schwester mehrmals dabei sein, woran ich mich noch gut erinnern kann.