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Karl wurde Schriftsetzer. Deshalb liebte er Buchstaben, die er nun sorgfältig in seine Heftchen eintrug. Die Buchstaben stellten das dar, was übrig bleiben sollte, wenn er nicht mehr da sein würde. So wie die Bibel. Er versteckte die Büchlein an verschiedenen Orten. Einige Blätter dieser Büchlein haben ihren Zweck erfüllt. Meine Schwester Jutta hat sie im Jahr 2001 durch Zufall in einer Rumpelkammer ihrer Wiener Wohnung gefunden. Hier war Großvater Karl mit seiner Frau Antonia schon seit 1923 angemeldet. Aber er verbrachte nach Kriegsanfang (1939) die meiste Zeit im Garten, also in Eßling, wo er viel Gemüse anpflanzen konnte, was ja in der damaligen Zeit auch sehr wichtig war. Wenn Karl zu seiner Frau Antonia, also in seine eigene Wohnung im VI. Bezirk fuhr oder ging, musste er den grauen Mantel anlegen, auf dem ihm Antonia auf der linken Brustseite einen handtellergroßen gelben Judenstern angenäht hatte, wie es laut Verordnung ab 19. September 1941 Pflicht war. Aber er blieb nie lange. Vom Fenster ihrer Wohnung im zweiten Stock hatte Antonia nämlich beobachten können, wie immer wieder Lastwagen kamen, auf die in der Gasse wohnende Juden unsanft gestoßen wurden. Von keinem hat man mehr etwas gehört. Und die meisten Nachbarn hatten auch nichts gesehen. Aber es ging alles sehr schnell und es wurden nur die Juden mitgenommen, die man antraf. Und der Karl Stark war eben meist nicht anwesend. Antonia hatte da wenig zu befürchten, denn sie besaß einen einwandfreien Ahnenpass in Form eines knallroten Heftes (das ich sorgfältig aufbewahre), mit Reichsadler und Hakenkreuz auf der Titelseite, und einige weitere Dokumente, die sie als „Ariernachweis“ vorzeigen konnte. In den Urkunden aller ihrer Vorfahren stand „römisch-katholisch“. Und das entspricht ja genau der einzigen in der Praxis anwendbaren Definition der „arischen Rasse“, die man allerdings rein biologisch nicht nachvollziehen kann. Sie wird noch heute in gewissen Kreisen benutzt. Mir wurde erzählt, dass SS-Leute drei Generationen als „rein Arisch“ (also ohne Vorfahren jüdischer Religion) nachweisen mussten, normale Bürger nur zwei. Damit wurde ihr Blut als „rein“ oder genügend „nordisch-deutsch“ erklärt. Ein Schönheitsfehler in Antonias Ahnenpass war allerdings, dass ihr Ehemann Karl Stark hier als „‚mosaisch‘“ eingetragen war. Aber der war ja nie da und sie wusste wohl nicht wo er verblieben war. Er musste schon seit dem 26. Juni 1939 den Zwangszusatznamen „Israel“ tragen und hieß also „Karl Israel Stark“. Und die Wohnung sollte mit einer zweiten „nichtarischen“ Familie geteilt werden, was wohl dann wegen Wiener Schlamperei nie stattgefunden hat. Großvater Karl hatte keine Angst. Er schickte uns Briefe und Postkarten nach Argentinien in denen er über sein Leben berichtete und seinen Namen und Adresse immer vollständig angab. Die Post wurde damals sorgfältig zensiert und nicht erwünschte Passagen herausgeschnitten. Großvaters letzter Brief vor dem Kriegsende hatte das Datum 25. September 1941. Erst gegen Ende 1946 gab es dann wieder Post. Meine Mutter hat das alles sorgfältig geordnet und aufbewahrt. Aber jetzt zurück zu den handgeschriebenen Seiten aus den Heftchen des Karl Stark. Einige Seiten dienten wohl als Adressbuch. Ich fand darin auch Namen, die ich schon irgendwo gehört hatte. Mehrmals sind die Geburts- und ev. die Todestage der Familienmitglieder erwähnt, und von einigen, wann sie Wien verlassen haben: Hans Waloschek, weggef. 17 / IX 1936 (mein Vater) Grete, Peter und Jutta, weggef. 28 / III 1937 (meine Mutter, ich und meine Schwester) Eduard Stark, weggef. 19 / II 1939 (ältester Sohn von Karl, engagierter Sozialdemokrat) Fam. Biber, weggef. 25 / VII 1939 (Schwester von Antonia und Familie) Dann gab es Angaben über Karls beide Schwestern: Mathilde Stark, geb. 6. / XI 1875. Abgeholt am 5. / 1 1942 Helene Stark, verh. Grau, geb. 11. / 1 1879. Abgeholt am 5. /1 1942 Wir nannten sie Tante Minna und Tante Leni, obwohl sie unsere GroBtanten waren. Sie wurden „abgeholt“ weil ein rassisch einwandfreier Anwärter ihre gut situierte Wohnung in der Neustiftgasse im VII. Bezirk Wiens haben wollte. So einfach war das. Man erzählte mir später, dass sie nicht lange zu leiden hatten. Da sie arbeitsunfähig waren, wurden sie sofort vergast. Eine weitere Notiz bezog sich auf den jüngeren Sohn von Karl Stark, also meinen Onkel Felix: Dr. Felix Stark, Ried am Riederberg — Physiker bei Lorentz, Berlin Später hat mir Onkel Felix erzählt, dass er mit seiner Familie und mit dem gesamten Hausrat von Wien nach Berlin „übersiedelt“ (dienstverpflichtet) wurde, um an einem sehr geheimen Entwicklungsprojekt teilzunehmen, dass mit den berühmtberüchtigten V2-Bomben mit Raketenantrieb zu tun hatte. Genaueres durfte er mir nicht sagen. Er wurde extrem gut behandelt. Kein einziges Stück seines Porzellans ist beim Transport zerbrochen, auch bei der Rückübersiedlung nach Österreich nicht, vor dem Ende des Krieges. 15